Rezension (5/5*): Das Städtchen von Hans Adler

Renie

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19. Mai 2014
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renies-lesetagebuch.blogspot.de
Der österreichische Autor Hans Adler (1880 - 1957) versetzt uns mit seinem Roman „Das Städtchen“ in eine Zeit der Backenbärte, Schmerbäuche, Taschenuhren und Zigarrenqualm – zumindest denke ich an solche Dinge, wenn ich mir das Leben in Österreich während der Epoche k.u.k. (Mitte 19. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts) vorstelle. Er porträtiert das Leben in einer Kleinstadt und spart dabei nicht mit bissigem Humor. Als Leser sollte man sich jedoch darauf einstellen, dass man mit einem, für unser heutiges Empfinden, ungewöhnlichen Sprachstil konfrontiert wird, der natürlich schon einige Jährchen auf dem Buckel hat – der Roman ist schließlich 1926 geschrieben worden. Die österreichischen Wurzeln des Autors lassen sich sprachlich nicht leugnen. Aber wenn man sich einmal auf diese Sprache eingelassen hat, belohnt dieser Roman mit reichlich satirischem Humor, der in der heutigen Zeit seinesgleichen sucht.

Klappentext:
Herr von Seylatz soll in diesem Nest eine Zwischenstufe in seiner Beamtenkarriere absitzen, aber er hat vor, das beste daraus zu machen. Phantasien von einfachen Kleinstadtmädchen werden wach, und immerhin wohnt auch sein alter Freund Titus Quitek hier, einst ein vielversprechendes Malertalent, jetzt Zeichenlehrer an der hiesigen Realschule. Schon bei der ersten Begegnung wirkt Quitek allerdings merkwürdig unglücklich und zerzaust … Um das Schicksal dieses gescheiterten Künstlers herum tut sich bald ein ganzes Panorama menschlichen Daseins auf. Vom Bürgermeister bis zur Prostituierten: gleichermaßen humorvoll-leichtfüßig wie düster-realistisch verwebt Hans Adler die Leidenschaften und Sehnsüchte, die erotische Gier, die Kaltblütigkeiten und das Durchwursteln aller Schichten dieses Provinzortes. Hans Adler erhielt für dieses Buch 1927 sofort den Künstlerpreis der Stadt Wien. 1947 erschien „Das Städtchen“ zuletzt – und das ist viel zu lange her für diesen ganz besonderen, unterhaltsamen und tiefsinnigen Roman. (Quelle: Lilienfeld Verlag)

Der Anfang des Buches liest sich wie ein Staffellauf. Hans Adler führt uns durch die Straßen des Städtchens (wie auch immer es heißen mag) und macht den Leser dabei mit den unterschiedlichen Charakteren seines Romanes bekannt. Personen begegnen sich und gehen wieder auseinander. Gleichzeitig kommt es zu einem ständigen Wechsel in der Erzählperspektive. Der Erzählstab wird sozusagen von Charakter zu Charakter weitergereicht.

Hans Adler liefert mit seinen Protagonisten einen Querschnitt der damaligen Gesellschaft. Seine Charaktere kommen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten und Milieus. So finden sich Lehrer, Beamte und Politiker neben Adeligen und Arbeitern; Maler, Schauspieler und Sänger neben Töchtern aus gutem Hause, Sekretärinnen und Prostituierten. Hans Adler bedient sich dabei sämtlicher Klischees und spart nicht mit Sarkasmus.

"Eine mühelose, glänzende Karriere lag vor ihm, der einen ehemaligen Minister zum Vater hatte. Übrigens merkwürdig, wie viele ehemalige Minister es gab. Ihre Söhne, Neffen und Enkel hatten es gut, während die anderen, deren Väter wackere Landärzte, Kaufleute, einfache Bürger waren, nie für voll galten, übersprungen, transferiert und zurückgesetzt wurden und unter normalen Umständen trotz Verwendbarkeit und Fleiß kaum Aussicht hatten, in die inneren Kreise der Beamtenhierarchie vorzudringen." (S. 11 f.)

Hauptthema dieses Romanes ist der Alltag und das Miteinander dieser Protagonisten. Der Autor macht deutlich, dass die damalige Gesellschaft in jeder Hinsicht eine Zweiklassengesellschaft war. Es gab nichts wichtigeres als die Herkunft eines Menschen. Emporkömmlingen haftete ein Makel an, den sie zeitlebens nicht losgeworden sind. Mitglieder des Beamtentums und der Politik benahmen sich in dem Städtchen wie kleine Souveräne, deren Königswürde unantastbar war. Gesellschaftliche Ausschweifungen gehörten zum guten Ton. Das Nachsehen hatten nur die „kleinen Leute“ und die Frauen in dieser Gesellschaft.

Gerade die Darstellung des Frauenbildes in Adlers Roman verschlägt dem Leser der heutigen Zeit die Sprache. Die Frauen bei Adler hatten als einziges Kapital ihren Körper, das sie auch meistens eingesetzt haben, mal mehr und mal weniger freiwillig. Sie waren auf Gedeih und Verderb den Herren der Gesellschaft ausgeliefert. Es scheint, als ob Adlers Männer die Eroberung von Frauen als Gentleman-Sport angesehen haben. Die Damen der Gesellschaft gingen damit unterschiedlich um. Es gab Frauen, die ihr Schicksal als gegeben hinnahmen und sich fügten bzw. bemüht waren das Beste aus der Situation heraus zu schlagen. So zahlte sich das weibliche Entgegenkommen manches Mal in Preziosen oder anderen Gefälligkeiten aus. Es gab allerdings auch Frauen, die sehr zurückhaltend in der Verteilung ihrer Gunst waren und hartnäckig von der großen romantischen Liebe träumten. Aber am Ende bekamen die Männer sie doch …. zumindest die meisten von ihnen.
Lustigerweise bekamen die Freiheiten der Männer einen gehörigen Dämpfer mit Eintritt in das Eheleben. Auf einmal stellt mann fest, dass die Frauen in der Ehe die Hosen anhaben und bestimmen, wo es lang geht. Und aus den brunftigen Partylöwen werden auf einmal handzahme Kätzchen, die einen gehörigen Respekt vor ihren Ehefrauen haben.

"'Der ursprüngliche und naive Mann', bemerkte Seydlatz, ,ersehnt immer eine Frau, zu der er in gewissem Sinne emporblicken kann. Der im bitteren Feuer der Lebenserfahrung komplizierter gewordene dagegen weiß, daß er das Weib nur unter sich zu suchen hat ...'" (S. 219)

Eigentlich müsste sich beim Lesen von Hans Adlers Roman Protest und Unwillen gegen das gesellschaftliche Szenario, das hier skizziert wird, breitmachen. Doch tatsächlich reagiert man als Leser hautsächlich mit Humor. Man kann gar nicht anders. Denn Adlers Komik ist einfach mitreißend. Adler gelingt es mit seiner für den modernen Leser ungewöhnlichen Sprache, einen besonderen Charme zu entwickeln, der den Leser um den Finger wickelt. Mit großer Süffisanz teilt Adler aus, wobei keiner seiner Charaktere geschont wird. Er spart dabei nicht mit Bissigkeit und Boshaftigkeit und ist für ständige amüsante Überraschungen gut. Allein dieser eingzigartige Erzählstil macht „Das Städtchen“ lesenswert.

"An seiner Seite saß Frau Direktor Müller-Monti, locker im Fleisch und weich im Herzen, einen giftgrünen Federhut auf dem rostroten Haar, und bot Alberti, der ihr pflichtgemäß den Hof machte, großmütig Einblick in die Untiefen eines heißwogenden Dekolletés. Die übrigen Mitglieder des Ensembles gruppierten sich wie fasziniert um den Direktor, der die Manschetten vor sich neben das Besteck gestellt hatte, um mit größerer Bequemlichkeit ein Brathuhn verzehren zu können, das ein wenig zäh zu sein schien." (S. 183)

Dieser Roman ist erstmalig im Jahre 1926 veröffentlicht worden. In der damaligen Zeit hat man dieses Buch wahrscheinlich als frivol bezeichnet, zumal der Autor mit einer sehr bildhaften und präzisen Sprache agiert, die der eigenen Vorstellungskraft nicht viel Spielraum lässt. Doch Dinge, die dem Leser damals die Schamröte ins Gesicht getrieben haben, rufen heutzutage nur ein Schmunzeln hervor, insbesondere, wenn sie dermaßen klischeehaft ausgeschmückt werden wie in diesem Roman.

Fazit:
Hans Adler hat mit „Das Städtchen“ eine Kleinstadt-Posse geschrieben, die an bissigem Humor nicht zu überbieten ist. Ein Roman, der großartig unterhält, für manchen Schenkelklopfer gut ist, ein umfangreiches Gesellschaftsporträt der damaligen Zeit darstellt und sich damit wie selbstverständlich in die Riege der zeitlosen Leseschätze einreihen darf.

Klare Leseempfehlung!

© Renie
 
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