Rezension Rezension (4/5*) zu Zimmermanns Stunde: Roman von Karolien Berkvens.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Wenn Lebensstrategien scheitern...

Vierzig Jahre im Fünfzig-Minuten-Takt: Loet Zimmermann ist aufgegangen in seinem Beruf an einer Schule, Stundenpläne zu koordinieren. Nun steht er vor dem Ruhestand und der schier unlösbaren Aufgabe, all die Zeit, die plötzlich ungeordnet vor ihm liegt, sinnvoll zu strukturieren. Doch bevor es so weit kommt, wird er auf offener Straße überfallen und der Uhr beraubt, die er von seinem Vater geerbt hat. Als wäre mit dem Messwerkzeug auch die klare Ordnung verschwunden, für die es stand, bricht Zimmermanns Leben auseinander. Schutzwälle geben nach, Furcht kriecht in Ritzen und Winkel – bis Zimmermann beschließt, ein für alle Mal aufzuräumen.

Loet Zimmermann ist ein korrekter Mann. Nie käme es ihm in den Sinn, unpünktlich zu erscheinen oder auch nur einen Jota von seinem gewohnten Tagesablauf abzuweichen. Doch nun ist es vorbei mit seinem Berufsleben, sein Abschied wurde gefeiert inmitten seiner Kollgen am Gymnasium, verbunden mit der Empfehlung, er solle seine neue Freiheit genießen. Doch ein Loet Zimmermann genießt nicht - er lebt.


"Zeit ist alles, was ihm jetzt noch bleibt. Beim Einteilen seiner letzten Jahre braucht er nichts einzukalkulieren, außer seinen Tod. Das wird vielleicht die größte Herausforderung..."


Ausgerechnet auf dem Heimweg von seiner Abschiedsfeier wird der alte Mann dann auch noch überfallen. Brutal niedergeschlagen und ausgeraubt bleibt er schwer verletzt am Boden liegen und findet sich schließlich im Krankenhaus wieder. Von da aus beginnt sein Niedergang...

Am meisten schmerzt Loet der Verlust seiner Armbanduhr, die er seinerzeit von seinem Vater zum 21. Geburtstag geschenkt bekommen und seither nie mehr abgenommen hat. Als Koordinator an der Schule war Loet zuständig für die Einteilung der Stundenpläne - und damit für die Einteilung der Zeit in 50-Minuten-Blöcke. Diese Einteilung hatte er auch für seinen eigenen Alltag übernommen: jede Handlung, jede Pflicht wurde so zu einer messbaren Größte, wobei ihm seine Armbanduhr unschätzbare Dienste leistete.

Doch nun - ohne seine Uhr - wirkt die Zeit wie eine willkürliche Anhäufung von Minuten und Stunden, die ohne sein Zutun vergehen, manchmal langsam, oft unbemerkt oder in Sprüngen. Loet wird zwar aus dem Krankenhaus entlassen, fasst aber in seinem Leben nicht mehr richtig Fuß. Seine Frau ist schon lange tot, sein Sohn Daniel längst ausgezogen und außerdem eher ein Mysterium denn ein Freund für Loet, so unterschiedlich wie sie sind.

Und nun sitzt Loet ohne Zeitgefühl in seinem kleinen Haus, alleine mit der Angst vor seinem Peiniger, die täglich größer zu weden scheint. Wie kann Loet sich nur vor einem erneuten Angriff retten? Schließlich hat der Angreifer auch Loets Geldbörse gestohlen und weiß nun, wo er wohnt. Loet will vorbereitet sein, doch hat er keine Idee, wie er sich wirksam schützen soll.

Loets bisherige Lebensstrategien scheitern, er verliert sich in seiner Angst, gerät in Verzweiflung, die Einsamkeit ist greifbar, Tagträumereien stellen sich ein, er weiß oft nicht mehr ob er wach ist oder schläft. Wie kann das bloß enden?

Ein eindringliches Psychogramm hat Karolien Berkvens mit ihrem Debüt abgeliefert. Der Schreibstil eher nüchtern und distanziert, entsteht beim Lesen dennoch ein wachsendes Gefühl der Beklemmung. Die Aussichtslosigkeit, Hilflosigkeit, Verwirrung, Einsamkeit und Verzweiflung des alten Mannes greift über auf den Leser, und die nahende Katastrophe ist wohl unausweichlich. Oder nicht?

Ein beeindruckendes kleines Buch, das auch über das Lesen hinaus beschäftigt. Empfehlenswert!


© Parden