Rezension Rezension (4/5*) zu Wut: Roman von Harald Martenstein.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Wut: Roman von Harald Martenstein
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Vererbte Wut, verkümmerte Liebe

Eine Mutter schlägt ihr Kind. Hart. Wie von Sinnen. Immer wieder. Mit einer Gnadenlosigkeit, die man am liebsten erbrechen würde wie Galle. Sie bespuckt den Sohn, verhöhnt ihn, giert nach einer Reaktion – die er ihr mit kaltem Hass verweigert.⠀

Da musste ich manchmal eine Pause machen. Tief durchatmen, den Kopf frei bekommen. Aber dem Sog des Romans konnte ich mich nie lange entziehen.⠀

Unterschwellig vernimmt man auch in friedlicheren Szenen das dumpfe Dröhnen einer mit Verzweiflung gepaarten Wut – der Klang einer Wahrheit, die beim Lesen erschüttert bis ins Mark. Selbst wenn ich rein gar nichts über den Autor wüsste, würde ich die Hand dafür ins Feuer legen: hier schreibt ein Mensch aus persönlichem Erleben, da steckt viel Biographisches im scheinbar Fiktiven.⠀

Der Autor bestreitet das nicht, sagt im Prolog des Buches jedoch:⠀

“Und dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet.”⠀

Ihm gelingt der Drahtseilakt zwischen schonungsloser Darstellung dieser von Gewalt geprägten Mutter-Sohn-Beziehung und psychologischem Feingefühl. Seine Charaktere sind im Guten wie im Schlechten komplex und glaubhaft, auch wenn ihre Beziehung eine Katastrophe ist.⠀

Harald Martenstein beschönigt nichts, aber er dämonisiert die Mutter auch nicht. Stattdessen gibt er den Ursachen Raum: Maria wächst in der Nachkriegszeit ohne Eltern auf – zum Teil im Bordell der Tante, zum Teil ausgerechnet in einer Klosterschule. Sie ist hochintelligent, will Ärztin oder Anwältin werden, scheitert jedoch am Patriarchat.⠀

Nach Jahren des Frusts, der Erniedrigung und der gescheiterten Träume hat sie ihre Wut nicht mehr im Griff, was später auch ihr Sohn zu spüren bekommt.⠀

Protagonist Frank ist inzwischen ein Mann in mittleren Jahren, schon lange nicht mehr das geprügelte Kind. Er will verstehen, was geschehen ist und warum, vielleicht sogar verzeihen – begreift aber lange nicht, dass er die Wut seiner Mutter als bitteres Erbe in sich trägt. Er führt ungesunde Beziehungen mit nicht weniger emotional verwundeten Frauen, letztendlich mit fatalen Folgen. Gewalt gebiert Gewalt, über Generationen hinweg.⠀

Oder doch nicht?⠀

Das Ende macht einiges, was man als Leser:in für bare Münze genommen hat, wieder ungeschehen, verlegt es ins Reich des Fantastischen – oder der Wahnvorstellung.⠀

Das tut dem Roman meines Erachtens nicht gut; der Realismus der bis dato ungeschönten Handlung wird dadurch zu sehr beschnitten und damit auch die emotionale Wucht der Geschehnisse geschmälert.⠀

Fazit⠀

Als Kind wurde Frank von seiner Mutter regelmäßig verprügelt, verhöhnt und erniedrigt – bis er als Jugendlicher zurückschlug und dann aus dem Fenster sprang. Jetzt ist Frank im mittleren Alter, seine Mutter dement, und er will verstehen, vielleicht sogar verzeihen.⠀

Harald Martenstein erzählt die Geschichte der Mutter, beleuchtet die Ursachen ihrer unstillbaren Wut. Parallel muss sein Protagonist erkennen, wie sehr er diese Wut selber in sich trägt.⠀

Der Roman ist harte Kost, dabei aber nicht übertrieben oder effektheischend. Die Charaktere werden lebendig und glaubwürdig beschrieben, die Sprache trifft genau den richtigen Ton zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit. Einzig das Ende stellt in meinen Augen einen unpassenden Bruch dar, da es Elemente der Handlung abseits der Realität wieder rückgängig macht.⠀


 
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Bekanntes Mitglied
19. Februar 2017
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Ich kenne Harald Martenstein bisher nur als launigen Kolumnisten, den ich sehr gerne lese. Dieses Buch hört sich so völlig anders an, aber nichtsdestotrotz gut. Werde ich mir merken. Danke für die Rezension!