Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist …Kaufen
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Der Kleinverleger Julius Reither hat sich mit MItte Sechzig aus der Großstadt in ein kleines Alpental zurückgezogen, wo er alleine in einer Wohnanlage lebt. Mit Empfang. Es scheint sich also um etwas Gehobeneres zu handeln. Reither hat keine Familie, keine Verwandtschaft. Er scheint generell über keine ausgeprägten sozialen Kontakte zu verfügen. Schnell wird klar, dass Reither einer ist, der präzise denkt, seine Worte sehr genau setzt. Klar, das war sein ganzes Berufsleben lang als Verleger sein Geschäft. Aber zufrieden oder gar glücklich scheint dieser Reither nicht zu sein. Eher ist es ein Hinnehmen und Erdulden aufeinander folgender Tage in dieser gutsituierten Einsamkeit.
In diese brüchige Ruhe platzt nun Leonie Palm. Sie hat ihren Hutladen aufgegeben, weil es "keine Gesichter mehr für ihre Hüte“ gibt. Der ältere Kleinverleger und die Hutladenbesitzerin wirken wie Relikte aus einer untergegangenen Zeit, zwei Leute, für die in einer immer konformeren Welt kein Platz mehr ist. Das verbindet die beiden auch. Aus einer romantischen Laune heraus fahren sie gemeinsam an einen See, um dort auf den Sonnenaufgang zu warten. Aber dabei bleibt es nicht. Sie fahren weiter. Italien ist nah. Und zurück in dieses wenig verheißungsvolle Leben zieht es sie nicht.
Aber was soll in Italien warten? Das Glück? Endlich die Liebe? Das Glück ist ihnen in den vergangenen Jahrzehnten abhanden gekommen. Stattdessen holt beide auf der Fahrt in den Süden die Vergangenheit ein. Reither rekapituliert seine frühere Beziehung und das Kind, das er nicht wollte, Leonie quält sich mit dem Selbstmord ihrer Tochter. Sie kommen sich näher, zaghaft, manchmal ungeschickt, auf ihrer Fahrt in Richtung Sonne. Aber kann das funktionieren?
Kirchhoff verwebt ein sehr aktuelles Thema mit dieser späten Romanze. Je weiter die beiden nach Süden kommen, desto häufiger begegnen sie Flüchtlingen. Ein Flüchtlingsmädchen nehmen sie mit. Das ist ebenso rührend wie hilflos. Aber diese Flüchtlingsthematik lenkt auch von der eigentlichen Geschichte ab und von der Frage, ob es die beiden von Schicksal und eigenen Versäumnissen Gebeutelten doch noch schaffen und ein spätes Glück finden.
Kirchhoffs Sprache ist präzise, so als hätte jedes Wort eine Aufnahmeprüfung für diesen Text machen müssen. Beinahe verliert man über diesen geschliffenen Sätzen die Handlung aus den Augen. Man würde gerne mehr erfahren, mehr mit den beiden erleben, mehr mit Julius und Leonie mitfiebern können. Aber letztlich macht diese beeindruckende Fabulierkunst dieses Roadmovie Widerfahrnis zu einem beeindruckenden Leseerlebnis.
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