Rezension (4/5*) zu Vom Ende eines Sommers: Roman von Melissa Harrison

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Vom Ende eines Sommers: Roman von Melissa Harrison
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Landleben im England der 1930er Jahre

Ich-Erzählerin Edie Mather erinnert sich an ihre Jugend, insbesondere an den Sommer 1934, der auf ein Dürrejahr folgte, das viele Landwirte in Verschuldung und Armut getrieben hat. Edies Familie betreibt eine kleine Farm. Die Tage sind ausgefüllt, jedes Familienmitglied hat seine Pflichten. Fast alles wird noch von Hand oder mit Pferden erledigt. Maschinen und Traktoren haben Seltenheitswert, die Angst vor Missernten ist omnipräsent, der Große Krieg sowie die Weltwirtschaftskrise haben Spuren hinterlassen.

Edie ist ein seltsames Mädchen, das Bücher der Gesellschaft Gleichaltriger vorzieht. Sie hat eine lebendige Fantasie und lässt sich von den abergläubischen Geschichten ihrer Mutter und anderer Dorfbewohner faszinieren. Ihre einzigen Freunde sind ihre Geschwister. Die ältere Schwester Mary hat bereits geheiratet und ein Baby - Edie vermisst sie als Vertraute sehr. Der 16-jährige Frank arbeitet schon voll auf dem Hof mit und hat nur noch wenig Zeit für die jüngere Schwester, die gerne in der Gegend herumstromert und alles beobachtet, was um sie herum geschieht. Edie liebt die Natur, kümmert sich um in Not geratene Tiere, kann sich aber auch in Tagträumen verlieren. Ihre feinsinnigen Schilderungen der Landschaft, der Menschen ihres Umfeldes, des harten aber doch für viele befriedigenden Landlebens zeugen von großer Liebe und inniger Naturverbundenheit.

Als die Journalistin Connie FitzAllen im Dorf auftaucht und sich für Edie und ihre Familie zu interessieren beginnt, wird Edie aus ihrem Trott gerissen. Die urbane Frau in Hosen, die so klare Ansichten vertritt, mit den Männern diskutiert, ohne auf anderslautende Gepflogenheiten zu achten, und Artikel für eine Londoner Zeitschrift schreibt, fasziniert das junge Mädchen. Edie versucht fortan, möglichst viel Zeit mit der Städterin zu verbringen. Connie überwindet schnell die Ressentiments der Bevölkerung durch ihre zupackende, aufmerksame Art. Allerdings verklärt sie das Landleben nicht nur in ihren Artikeln immens und versucht, die Bauern von einer rückwärtsgewandten Arbeitsweise zu überzeugen. Zunehmend wird deutlich, dass sie nicht nur aus persönlichem Interesse aufs Land gereist ist, sondern auch extreme politische Ambitionen und Überzeugungen hegt. Währenddessen sieht Edie in ihr ein Idol, träumt von einem Leben in London fernab der vorbestimmten Pfade.

Edie befindet sich auf der Schwelle zum Erwachsensein. Sie liebt Tiere, wirkt aber in Bezug auf Männer entsetzlich naiv, was deutlich wird, als der Nachbarsjunge Alf ihr nachsteigt. Niemand scheint sie aufgeklärt zu haben, was mir angesichts des ländlichen Umfeldes mit praktizierter Viehzucht nicht ganz realistisch erscheint. Man leidet mit Edie mit, als sie niemanden hat, mit dem sie über ein persönliches, aufwühlendes Erlebnis sprechen kann.

Es passiert zunächst nicht allzu viel im Roman, er plätschert mit einnehmenden Bildern dahin. Dann sind es aber wieder einschneidende Ereignisse, über die aus Sicht des Teenagers relativ gleichmütig berichtet wird, obwohl dem Leser eine viel größere Tragweite bewusst ist. Die Stärke des Romans liegt in den Beschreibungen und authentischen Schilderungen des Landlebens der 1930er Jahre im Verlauf der Jahreszeiten. In die sommerliche Atmosphäre von sonnen- und licht- durchfluteten Feldern, gleißender Hitze, zwitschernden Vögeln und staubigen Wegen kann man als Leser voll und ganz abtauchen.

Sprachlich ist der Roman wunderbar übersetzt und sehr ansprechend an die erzählte Zeit angepasst. Die detailliert und liebevoll gezeichnete englische Landschaft lädt zum Kopfkino ein. Außerdem wartet das Buch mit einem überraschenden Ende auf, das das Gelesene noch einmal in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt und damit einen anhaltenden Leseeindruck garantiert.

Ich empfehle den Roman allen Lesern, die sich gerne in einen bildreichen, atmosphärischen Roman fallen lassen sowie ein authentisches Bild vom Landleben der 30er Jahre bekommen möchten. „Vom Ende eines Sommers“ ist ein sowohl leichter wie auch melancholischer stimmungsvoller Sommerroman, der aus der Sicht eines damals 14-jährigen Mädchens erzählt wird. Es handelt sich sowohl um eine Coming-of-Age-Geschichte als auch um einen historischen Familien- und Dorfroman. Da auch in der Gegenwart verstärkt über den umfassenden Umbau der Landwirtschaft hin zu mehr Regionalität bei weniger Globalität diskutiert wird, sehe ich durchaus aktuelle Bezüge. Zu erwähnen ist die haptisch ansprechende und sehr wertige Ausgabe des Hardcovers im DuMont Verlag.



 

Wandablue

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omnipräsent, Wörter kennst du. Ich muss mal sehen, ob ich in einer Rezi mal ubiquitär anbringen kann ...
Abgesehen davon kann ich mir alles haargenau vorstellen. ich habe heute ein neugieriges Pfauenauge aus dem Wohnzimmer verscheuchen müssen. Die Natur ist ubiquitär.