Rezension (4/5*) zu Verräterkind: Roman von Sorj Chalandon

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Verräterkind von Sorj Chalandon
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Ein zweifacher Prozess

Im Mai 1987 beginnt in Lyon der Prozess gegen Klaus Barbie. Wegen seiner Grausamkeit war der Gestapo-Chef in Lyon auch als „der Schlächter von Lyon“ bekannt. Nach dem Krieg hat er sich nach Bolivien abgesetzt und wurde erst 1983 festgenommen und nach Frankreich ausgeliefert. Barbie wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt.
Sorj Chalendon war einer der 700 Journalisten, die den Prozess verfolgten. Dabei plagten ihn Zweifel, als er von seiner Zeitung den Auftrag dazu erhielt. „ Hatte der Sohn eines Verräters überhaupt das Recht, …( davon ) Zeugnis abzulegen?“
Denn dass er ein solches „ Verräterkind“ war, wusste er seit seiner Kindheit. Damals hatte ihn sein Großvater mit diesem Vorwurf konfrontiert. „ Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite.“
Schon immer war das Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Vater angespannt. Der Vater war ein gewalttätiger, tyrannischer Mensch, der gerne mit seinen vermeintlichen Heldentaten im Zweiten Weltkrieg prahlte. Was war davon wahr und was entsprang der ausufernden Phantasie des Vaters? Nie bekam der Sohn befriedigende Antworten auf seine Fragen nach des Vaters Vergangenheit. War er ein Held und Widerstandskämpfer oder ein Deserteur und ein
Kollaborateur ? Hat er für die Deutschen gearbeitet, seine Landsleute verraten? Und warum saß er im Gefängnis? Statt eindeutigen Antworten verstrickt sich der Vater in Widersprüchen, erzählt immer neue abenteuerliche Geschichten.
Um endlich Klarheit zu erhalten, besorgt sich Chalandon mit Hilfe eines Freundes die Akten von der Gerichtsverhandlung kurz nach Kriegsende, die dem Vater ein Jahr Gefängnis und einen fünfjährigen Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte einbrachte.
Diese Recherche über die Vergangenheit seines Vaters erzählt der Autor parallel zur Gerichtsverhandlung gegen Barbie. „ Ich hatte den Prozess meines Vaters an den Ort gebracht, wo über Klaus Barbie verhandelt wurde. Die kleine und die große Geschichte vor demselben Gericht.“ Und auch dort wird er ständig mit seinem Vater konfrontiert, der dem Prozess als Zuschauer beiwohnt.
Erschüttert von den Zeugenaussagen der Überlebenden erhofft sich Chalandon eine Reaktion bei seinem Vater. Doch der ist mehr an der Figur Barbie interessiert als an dem, was die Opfer aussagen.
Während man aber im öffentlichen Prozess eine deutliche Vorstellung von den Gräueltaten der Nazis bekommt, bleibt das Bild des Vaters bis zum Ende hin unklar. Ein Opportunist, einer der sich Geltung verschaffen will, ein Blender, so erscheint er dem Sohn. „ Du hast die Uniformen gewechselt wie Theaterkostüme…“ und „ Du bist nicht desertiert, nein, du hast nur den Krieg geschwänzt.“ wirft der Autor dem Vater vor. Trotzdem versucht er immer wieder zum wahren Ich seines Vaters vorzudringen, wünscht sich, dass der wenigstens ihm die Wahrheit sagt und ihm so sein Vertrauen schenkt. Doch am Ende muss Chalandon einsehen, dass er das, was er sich erhofft, nie bekommen wird. Denn „ Seine Illusionen hatten ihn immer aufrechterhalten. Sie waren sein Sockel, sein Gerüst,… ein Panzer aus falschen Wahrheiten.“
Während mich der Bericht über den Barbie- Prozess, hier besonders die erschütternden Zeugenaussagen und das Schicksal der Kinder von Izieu, für deren Deportation Barbie verantwortlich war, zutiefst berührt hat, konnten mich die detaillierten Nachforschungen zum Leben des Vaters nicht im gleichen Maße erreichen. Für mich war schon bald klar, dass der alte Mann nicht bereit war, irgendetwas einzusehen oder zu bereuen. Zu sehr war er in seinem eigenen Lügengebilde verstrickt. Und beinahe unerträglich war das Verhalten des Vaters während des Prozesses. Gelangweilt gähnend verfolgt er die Aussagen der Opfer, die von ihrem unfassbaren Leid erzählen und bestreitet danach deren Glaubwürdigkeit.
Angesichts des Grauens, von dem der Barbie- Prozess berichtet, erscheinen mir die Spielchen des Vaters banal.
Auf sprachlich hohem Niveau entwickelt Chalandon seine Geschichte, mal reportagehaft nüchtern und präzise, dann wieder höchst emotional und einfühlsam. Immer findet er den richtigen Ton und erzeugt dabei beim Leser eine tiefe Anteilnahme.
Das Buch ist autofiktional, doch die Schlussbemerkung zeigt, dass Chalandon die Fakten verdichtet hat. Diese Konstruktion hat mich nicht völlig überzeugt.
Trotzdem ist „ Verräterkind“ ein wichtiges, ein gutes Buch, ein eindringlicher Text zur Vergangenheitsbewältigung -gerade die französische Perspektive ist für deutsche Leser interessant - und eine intensive Vater - Sohn - Geschichte.


 

Literaturhexle

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Immerhin ist er beim Prix Goncourt nur knapp unterlegen.
Und zwar von diesem:

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..., das meiner Meinung nach nochmal ein ganz anderes Kaliber darstellt;)