Rezension (4/5*) zu Verräterkind: Roman von Sorj Chalandon

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Verräterkind von Sorj Chalandon
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Auf der Suche nach Schuld und Wahrheit

Im Mai 1987 beginnt in Lyon der ergreifende Prozess gegen den NS-Funktionär Klaus Barbie, dem man grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last legt. Eng mit dem Prozess verbunden ist der Ich-Erzähler, der ihn als Journalist begleitet und den einzelnen Sitzungen beiwohnt. Gleich zu Beginn des Romans wird der Leser auf eine berührende Reise ins Kinderheim von Izieu mitgenommen, aus dem am 6. April 1944 auf Befehl Barbies über 40 überwiegend jüdische Kinder und Jugendliche abgeholt und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Man hatte das Versteck verraten. Wer ist zu einer solchen Tat fähig, wer tut so etwas, was muss das für ein Mensch sein?

Der Erzähler recherchiert im Fall Klaus Barbie, dem weitere ruchlose Verbrechen zur Last gelegt werden. Die Auseinandersetzung im Rahmen des bevorstehenden Prozesses wecken im Erzähler weitere persönliche Geister, denn auch sein Vater scheint einst mit den Nationalsozialisten kollaboriert zu haben. Wie weit ging diese Zusammenarbeit, inwiefern könnte er sich schuldig gemacht haben? Diese Fragen sowie umfangreiche Erinnerungen aus der Kindheit kommen im Zusammenhang mit dem Prozess um Barbie hoch. Es wird auf mehreren Zeitebenen erzählt. Wir erfahren, dass der Erzähler von Kindheit an unter seinem unberechenbaren, zu Gewalt neigenden Vater litt. Einem Vater, der sich in Erzählungen selbst stets überhöhte und wahre Heldengeschichten über sich und sein ehrenhaftes Verhalten während des Krieges zu berichten wusste. Erste Risse bekamen diese Darstellungen bereits, als der Großvater den Erzähler vor einer Ewigkeit als „Verräterkind“ beschimpfte – einen Vorwurf, der das Kind nachhaltig beschäftigt und es jahrzehntelang nicht mehr loslässt. Mit den Vorwürfen, ein Verräter gewesen zu sein, konfrontiert, streitet der Vater jedoch alles ab. Die zurückhaltende Mutter führt nur ein Schattendasein in der Familie, der Sohn leidet unter der mangelnden Akzeptanz.

Sehr geschickt lässt der Autor die beiden Erzählebenen ineinander fließen. Er verbindet die berufliche große Geschichte um Verbrecher Klaus Barbie mit der eigenen kleinen Familienhistorie des Erzählers. Die Recherchen wechseln sich ab, es gibt Zusammenhänge und Überschneidungen. Über einen Freund bekommt der Erzähler Zugang zu Gerichtsunterlagen seines Vaters, über die jener sich ausgeschwiegen hat. Akribisch rekonstruiert der Erzähler die väterlichen Stationen während des Krieges, gleicht die überlieferten Geschichten mit der juristisch belegten Wahrheit ab und spürt den daraus resultierenden Diskrepanzen und Lügen hinterher. Gleichzeitig nimmt der Erzähler als Gerichtsreporter am Prozess gegen Klaus Barbie teil, den auch sein Vater von der Zuschauertribüne aus beobachtet. Wo steht der Vater, wie positionierte er sich damals, was interessiert ihn heute an Barbie? Fragen über Fragen, die den Erzähler intensiv beschäftigen und woran er den Leser teilhaben lässt. Die verschiedenen Prozesstage entwickeln ihre eigene bedrückende Dynamik. Die Aussagen der überlebenden Nebenkläger sind schwer zu ertragen. Die Erwiderungen von Barbies Anwalt, die Zeugen, die Plädoyers wirken sehr authentisch und lassen niemanden kalt. (Sorj Chalandon war beim tatsächlichen Prozess in Lyon dabei und wurde für seine diesbezüglichen Reportagen ausgezeichnet.)

Zunehmend rückt die Vater-Sohn-Beziehung ins Zentrum des Romans. Der Sohn schämt sich für die Taten seines Vaters und sehnt sich nach einer Aussprache, nach Wahrheit, nach Verstehen. Er möchte begreifen, warum sich der Vater über Jahrzehnte hinter seinem Lügengebäude versteckte. Alles läuft auf eine entscheidende Konfrontation zu…

Chalandon ist es in diesem Roman wieder hervorragend gelungen, emotionale Verstrickungen einer Vater-Sohn-Beziehung abzubilden. Man wird sehr schnell vom Geschehen eingefangen. Die Konstruktion des Romans auf den zwei Ebenen wird sehr gut umgesetzt. Stellenweise empfinde ich jedoch die Recherchen rund um die Tätigkeiten des Vaters während des Krieges als zu ausufernd und in Teilen repetitiv erzählt. Die Detailfülle wäre für mein Verständnis verzichtbar gewesen, weil sie den Vater stets in derselben unbelehrbaren Rolle zeigt. Gleichfalls fiel es mir persönlich schwer, die verzweifelte Wahrheits- und Aussöhnungssehnsucht des Erzählers zu verstehen. Meines Erachtens schulden Eltern ihren Kindern keinen kompletten Rapport über ihr Leben. Andererseits kann ich mir vorstellen, wie schwer es dauerhaft schmerzen muss, wenn man immer wieder über wesentliche Dinge belogen wird.

Der Roman leistet ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Man lernt viel über den laxen Umgang mit Nazi-Schergen nach Ende des Krieges, über die ambivalente Einstellung in vielen Familien, über den aufsehenerregenden Prozess gegen den „Schlächter von Lyon“. Dass die Protagonisten in diesem Fall Franzosen sind, macht den Roman für uns deutsche Leser besonders interessant und zeigt, wie gut vernetzt und weitreichend die Nationalsozialisten gewirkt haben und wie sehr eine familiäre Nazi-Vergangenheit in die nachfolgenden Generationen hineinwirkt.

„Verräterkind“ ist ein Buch, das ich interessiert gelesen habe und für das ich gerne eine Leseempfehlung ausspreche. Der Roman eignet sich hervorragend für Lesekreise.

 

pengulina

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Gleichfalls fiel es mir persönlich schwer, die verzweifelte Wahrheits- und Aussöhnungssehnsucht des Erzählers zu verstehen. Meines Erachtens schulden Eltern ihren Kindern keinen kompletten Rapport über ihr Leben.
Nein. Aber Chalandon hat sich zeitlebens mit diesem Vater und seinen Lügengeschichten beschäftigt, hat unter der Vater-Sohn-Beziehung gelitten, musste die Wahrheit herausfinden, um Frieden mit dem Vater zu schließen. Das war für ihn wie ein Fluch.
 

Literaturhexle

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musste die Wahrheit herausfinden, um Frieden mit dem Vater zu schließen. Das war für ihn wie ein Fluch.
Da sagst du was! "Ein Fluch" passt.
Ich denke, dass die Lügen und Heldengeschichten das Schmerzhafte waren. Für Verschweigen hätte man eher Verständnis.
Trotzdem konnte ich persönlich mit diesem Sich-Festbeißen am Vater stellenweise nicht mitgehen. Aber das sagt sich außenstehend immer leicht.
 

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