Rezension (4/5*) zu Verbrenn all meine Briefe: Roman von Alex Schulman

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.555
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Rhönrand bei Fulda
Buchinformationen und Rezensionen zu Verbrenn all meine Briefe: Roman von Alex Schulman
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Die Leiche im Keller

"In meinem Kellerverschlag liegt eine tote Ratte", mit diesem Satz beginnt das dritte Kapitel des Romans "Verbrenn all meine Briefe". Das bekannte Bild von der Leiche im Keller fasst sehr gut zusammen, worum es in diesem Buch geht. Der Autor Alex Schulman bewahrt in jenem Keller die gesammelten Werke seines Großvaters Sven Stolpe auf. Um sie ans Tageslicht zu holen, sich in das Leben und Wirken Stolpes zu vertiefen, muss er einigen Mut aufbringen.

Sven Stolpe (1905 - 1996), zu seinen Lebzeiten ein anerkannter Schriftsteller und Literaturkritiker, war - geht man nach dem, was Schulman berichtet - ein geistig reger Intellektueller. Aber auch ein ausgesprochenes Charakterschwein, ein boshafter, tückischer und geradezu lächerlich selbstgerechter Familienvater. Schulman berichtet eine Vielzahl von Szenen aus eigener Erinnerung oder aus derjenigen anderer Familienmitglieder: wie Sven Stolpe sowohl seine Frau als auch seine Kinder bei jeder Gelegenheit mit Gehässigkeiten verfolgte, dabei aber immer mit gerade soviel Contenance, dass ihn niemals jemand ernsthaft in die Schranken wies. Ein Dauerzustand narzisstischen Gekränktseins zieht sich durch Stolpes gesamtes Werk, seine Romane und anderen Schriften, Briefe, Tagebücher. Insbesondere schien er von dem Idealbild einer madonnenhaft tugendsamen Frau geradezu besessen zu sein, wie sich an den Themen mehrerer seiner Bücher zeigt - ein überkommenes, wirklichkeitsfremdes Frauenbild, dem keine lebende Frau entsprechen könnte, auch nicht seine Ehefrau (und Schulmans Großmutter) Karin Stolpe.

Schulman hat seine Gründe, in der Familiengeschichte nachzuforschen. Das Bild des gehässigen Großvaters wirkt, wie er eingangs feststellt, noch drei Generationen später nach; die ganze mütterliche Familie (Schulmans Mutter ist eine Tochter des Großelternpaars Stolpe) ist davon geprägt: unbefangene, vertrauensvolle Zuwendung ist ihr ein Fremdwort. Der Erzähler selbst leidet unter einer stets präsenten unterschwelligen Wut, die, wie er berichtet, seine eigenen Kinder beängstigt. "Verbrenn all meine Briefe" ist jedoch keineswegs bloß eine Chronik fortlaufender Familienkräche. Schulmans liebevolle, sanfte Großmutter Karin Stolpe hatte ihre heimliche Liebe, die nie zur Erfüllung gelangte, aber auch nie ganz erlosch. Diese Liebesgeschichte ist das eigentliche Thema des Romans. Schulman zeigt in bewegenden Schilderungen auf, wie Hingabe und Sehnsucht sich gegen alle Widerstände ihren Platz behaupten können, wie eine unerfüllte Liebe ihre Gültigkeit bewahrt. Die tote Ratte findet ihren Meister. "Früher dachte ich, ich stehe in der untersten Zeile der Geschichte", stellt Schulman am Ende fest, "aber so braucht es nicht zu sein. Vielleicht stehe ich auch in der obersten Zeile." Der Roman endet mit Hoffnung.

"Verbrenn all meine Briefe" ist ein trauriges, ein hoffnungsvolles und vor allem ein durch und durch ehrliches Buch. Mit der Knappheit, die Schulmans Stil eigen ist, entwirft er mit kurzen Szenen und Schlaglichtern eine Tragödie von großer Tragweite. Erschütternde Erkenntnisse und poetische Szenen voll bezaubernder Klarheit wechseln einander ab. Der einzige Einwand, den man gegen dieses Buch vorbringen könnte, ist ein sehr persönlicher und (vermutlich) altmodischer: Es mag nicht jedem Leser und jeder Leserin restlos behagen, wie der Autor hier die sprichwörtliche schmutzige Familienwäsche ans Tageslicht zieht. Vor allem, weil nicht allein seine Kernfamilie betroffen ist, sondern auch eine Vielzahl anderer Menschen. Zum Glück ist "Verbrenn all meine Briefe" keine bloße Abrechnungsliteratur, wie sie derzeit Mode zu sein scheint. Schulmans Zugang ist differenziert und einfühlsam. Mir persönlich ist trotzdem soviel Unwohlsein geblieben, dass ich mich zur Höchstwertung nicht durchringen konnte - auf jeden Fall aber Leseempfehlung.

 

Literaturhexle

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2. April 2017
19.241
49.147
49
Schöne, gewohnt hilfreiche Rezension aus deiner Hand! Ich habe noch den ersten Schulman ungelesen stehen. So richtig fehlt mir der Reiz für Autofiktion. Warum, kann ich nicht wirklich begründen. Kommt Zeit, kommt Buch.
 
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Reaktionen: RuLeka und Die Häsin

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Schöne, gewohnt hilfreiche Rezension aus deiner Hand! Ich habe noch den ersten Schulman ungelesen stehen. So richtig fehlt mir der Reiz für Autofiktion. Warum, kann ich nicht wirklich begründen. Kommt Zeit, kommt Buch.
Den ersten Schulman habe ich gar nicht für Autofiktion gehalten, weil Schulman darin Namen und Familienverhältnisse hinreichend verfremdet hat. "Die Überlebenden" enthält, wie ich in meiner damaligen Rezension bemerkte, einen m.E. ziemlich verzichtbaren Twist am Ende, aber davon abgesehen ist Schulman ein toller Erzähler, der mit wenigen pointierten Sätzen und Bildern eine Welt erschafft.