Rezension Rezension (4/5*) zu Unterleuten von Juli Zeh.

wal.li

Bekanntes Mitglied
1. Mai 2014
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Menschliches und Zwischenmenschliches

Ein kleines fast vergessenes Örtchen in der Nähe von Berlin ist Unterleuten. Mit seiner relativen Nähe zur Stadt und der gleichzeitigen landschaftlichen Idylle und preisgünstigem Wohnraum bietet das Dörfchen etwas für am Zuzug Interessierte. Genau dieses Angebot haben einige Neu-Unterleutener genutzt. Und sie tun einiges dafür, sich in die Dorfgemeinschaft einzufügen. Dass einigen Plänen Steine in den Weg gelegt werden, erscheint ihnen nicht ganz verständlich. Warum brennt der Nachbar alte Reifen ab? Er müsste doch wissen, dass das der kleinen Tochter von Gerhard Fließ nicht guttun kann. Und wieso hat das Haus von Linda Franzen einen so schlechten Ruf. Allerdings sind auch die Alt-Unterleutener sich gegenseitig nicht grün. Zwischen Gombrowski und Kron herrscht eine ewige Fehde.

Was vorher lediglich unterschwellig spürbar war, bricht ans Tageslicht als eine Investmentgesellschaft plant in Unterleuten einen Windpark zu errichten. Nun beginnt der Kampf Befürworter gegen Gegner der Anlage und gleichzeitig versuchen findige Dorfbewohner das Meiste aus ihrem Grundbesitz herauszuschlagen.

Ruhig erzählt Juli Zeh die Lebensgeschichte jedes Einzelnen der Dorfbewohner. Da wird das Tier beinahe sympathisch, während der Umweltschützer zum Monster mutiert. Dazwischen reiben sich die weiteren Dorfbewohner. Jeder hat einen guten Grund, mit dem er sein Handeln rechtfertigt. Die vielbeschworene Gemeinschaft, von der nach der Wende über das Dasein im Osten geschwärmt wurde, scheint schon lange zerbrochen. Kleinkriege werden mit großer Gründlichkeit geführt. Jeder ist sich selbst der Nächste, sogar wenn er meint, er setze sich für andere ein. Wenn man gerade meint, eine Person verstanden zu haben, begeht diese eine Tat, durch die man vor den Kopf gestoßen wird. Die Sympathiepunkte sind verspielt. Am Ende fragt man sich, für wen das Ganze zu einem guten Schluss geführt haben könnte. So richtig will sich keine Antwort bilden, obwohl die meisten der Beteiligten der Situation mit größeren oder kleineren Blessuren entronnen sind.

Ausgesprochen gut vorgetragen wird die Misere von Helene Grass, die unaufgeregt so manche Seite zum klingen bringt. Wenn Lektüre sei sie gelesen oder vorgelesen Emotionen, Gedanken und Nachdenken auslöst, kann sie nur gut sein. Die fein geschliffenen Worte der Autorin entfalten ihre Wirkung langsam und nachhaltig. Die Strömungen des Dörflichen sind vielleicht etwas überspitzt, wer allerdings selbst vom Lande kommt, wird einiges wieder erkennen. Ob man die ländliche Idylle der Anonymität der Stadt vorzieht, bleibt jedem selbst überlassen. Einem kleinen Teil der Gesellschaft hält Juli Zeh jedenfalls einen äußerst lesenswerten Spiegel vor.


von: Philipp Winkler
von: Eliot Pattison
von: Vincent Kliesch
 
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