Rezension (4/5*) zu Unter Raubtieren: Roman (Lenos Polar) von Colin Niel

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.611
16.595
49
Rhönrand bei Fulda
Jäger, Gejagte und umgekehrt

Im Béarn - das ist in Südfrankreich gleich östlich vom Baskenland - sollen Bären angesiedelt werden. In den Zentralpyrenäen gibt es schon welche, nun will die Region auch ihre eigenen haben; aus Slowenien sollen sie kommen. In der Bevölkerung gibt es eine breite Front dagegen. Martin, einer der Naturpark-Ranger, will unbedingt wieder Bären im Béarn. Seine Hündin hat er nach einer bereits in einer Treibjagd "versehentlich" erschossenen Bärin namens Cannelle benannt; ihr Junges könnte noch leben - Martin hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, "Cannellito" wiederzufinden. Obwohl er eigentlich allgemein die Hoffnung für die Natur in den Pyrenäen aufgegeben hat: Martin ist fanatischer Naturschützer, besonders Jäger sind ihm verhasst; und das in einer Gegend, in der Kompromisse mit Einheimischen unabdingbar sind.

Apolline, genannt, Apo, ist ein stilles Mädchen aus reichen Hause, Studentin. (Eine iherer entfernteren Nichten ist übrigens Maribé mit dem gepimpten Busen, die wir bereits aus "Nur die Tiere" kennen.) Apos Leidenschaft ist die Jagd. Das Jägergen hat sie vom Papa, im Gegensatz zu diesem ist sie aber introvertiert, postet keine Trophäenfotos auf Instagram oder Facebook und ist am liebsten allein in der Natur unterwegs. Ihr Papa nennt sie scherzhaft "Legolas": Apo jagt mit einem Hightech-Bogen. Kleinere Jagden, zum Beispiel auf Gazellen in Südafrika, hat sie bereits erfolgreich absolviert.

Schauplatzwechsel nach Namibia: Komuti ist ein junger Mann vom Volk der Himba. Gemeinsam mit seinem Vater versorgt er eine große Ziegenherde, der ganze Besitz der Familie. Eine Dürreperiode zwingt die Familie dazu, die Herde in eine entlegene Weide zu treiben. Hier werden fast alle Ziegen, an die hundert Tiere, in wenigen Nächten von einem einzelnen männlichen Löwen gerissen. Der gleiche Löwe bedroht auch die Herden anderer Himbafamilien. Wie in einer solchen Situation üblich, bitten die Himba darum, dass der Löwe offiziell zum Abschuss freigegeben wird. Eine solche Jagdfreigabe, die es nur in Ausnahmefällen gibt, kann dem Staat Namibia viel Geld einbringen, weil Großwildjäger aus aller Welt viel Geld dafür bieten. Apos Papa sichert sich die Jagd als Geschenk für sie (und bezahlt dafür eine fünfstellige Summe!). Was der junge Himba Komuti als krasses Unrecht empfindet: Seine Herde ist es, die der Löwe tötete. Er sollte diesen Löwen zur Strecke bringen dürfen.


In überaus kunstvoller Weise strickt Colin Niel seine Geschichte auf zwei Zeitebenen, die nur wenige Wochen auseinander liegen. Im März geht Apo auf Löwenjagd in Namibia - im April entdeckt Martin auf Instagram ein Foto der jungen Bogenschützin mit einem leblos scheinenden Löwen zu ihren Füßen. Seine ganze verzweifelte Wut auf alle Jäger konzentriert sich auf die junge Frau. Schnell hat er herausgefunden, wo sie lebt, und beginnt sie zu belauern wie ein Jäger seine Beute. So sind es letztlich zwei Jagden, die hier parallel erzählt werden. Der Autor versteht es ausgezeichnet, Spannung aufzubauen, und an großartigen Naturschilderungen mangelt es nicht. Speziell die Szenen in den Pyrenäen, in denen gerade der letzte tückische Frühlingsschnee gefallen ist, sind von einer plastischen Wucht, die ihresgleichen sucht.

Wie schon in "Nur die Tiere" haben wir es auch in "Unter Raubtieren" mit einer mehrsträngigen Erzählweise zu tun, bei der die Ereignisse unter sehr verschiedenen Gesichtswinkeln beleuchtet werden. Die Wirkung der beiden Bücher auf mich persönlich war sehr unterschiedlich. In "Nur die Tiere" war ich anfangs sehr angetan von den überzeugenden Charakter- und Landschaftsschilderungen, bis im letzten Viertel die Geschichte in eine merkwürdig groteske Kulmination gipfelte. Mit "Unter Raubtieren" ging es mir umgekehrt: Im ersten Drittel erscheinen die Charaktere recht plakativ, manchmal borniert; sobald die Geschichte Fahrt aufgenommen hat, entwickelt sich eine düstere, dramatische Tragödie mit der Folgerichtigkeit einer Lawine, die zu Tal rollt. Den Ausgang kann man auf den letzten Metern ahnen - was dem Entsetzen keinen Abbruch tut.

In meinem Lesetagebuch habe ich zu "Nur die Tiere" vermerkt, dass man bei vier (oder waren es gar fünf?) verschiedenen Perspektiven aus extrem unterschiedlichen Milieus nicht erwarten könne, dass alle authentisch erscheinen. Mit "Unter Raubtieren" erging es mir ebenso. Ein in meinen Augen völlig entbehrlicher Bericht aus dem Kopf des gejagten Löwen wäre besser entfallen - weit anschaulicher ist übrigens ein ähnlicher, sehr viel kürzerer Bericht aus dem Kopf eines Bären, der einen kurzen Auftritt hat. Dazu kommt die bereits erwähnte Schwierigkeit mit den Charakteren: Apo bleibt eine geheimnisvolle Figur, obwohl lange Passagen aus ihrer Sicht geschildert werden; Martin tritt als ziemlich plumper Fanatiker auf, der erst in der zweiten Hälfte nach und nach "gebrochen" wird. Ich konnte mich nicht recht zur Höchstwertung durchringen - gebe vier von fünf möglichen Punkten, lieber wäre mir fünf von möglichen sechs. Leseempfehlung trotzdem!

 

Die Häsin

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16.595
49
Rhönrand bei Fulda
Für die Trophäenjagd habe ich auch keinerlei Verständnis. Dass Martin aber in geradezu hasserfüllter Weise "die Jäger" für das Artensterben verantwortlich macht, während er genüsslich von seiner Dauerwurst abbeißt, das hat schon ein Gschmäckle.
Ich war ja ein paarmal in Naturreservaten unterwegs, auch außerhalb Europas. Da bin ich öfter Menschen begegnet, die so denken.
Bedenkenswert ist aber der Gesichtspunkt, den einer der in dem Roman auftretenden Himba erwähnt: Wir Europäer haben auf unserem Gebiet alle großen Raubtiere fast völlig ausgerottet, und dann kommen wir daher und wollen den Afrikanern vorschreiben, wie sie als Bauern und Hirten mit ihren Löwen und Hyänen zusammenleben sollen ...
 
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