Rezension (4/5*) zu Unsere verschwundenen Herzen: Roman von Celeste Ng

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Buchinformationen und Rezensionen zu Unsre verschwundenen Herzen von Celeste Ng
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Bedrückende Dystopie mit bitterem Realitätsbezug...

Der zwölfjährige Bird lebt mit seinem Vater in Harvard. Seit einem Jahrzehnt wird ihr Leben von Gesetzen bestimmt, die nach Jahren der wirtschaftlichen Instabilität und Gewalt die »amerikanische Kultur« bewahren sollen. Vor allem asiatisch aussehende Menschen werden diskriminiert, ihre Kinder zur Adoption freigegeben. Als Bird einen Brief von seiner Mutter erhält, macht er sich auf die Suche. Er muss verstehen, warum sie ihn verlassen hat. Seine Reise führt ihn zu den Geschichten seiner Kindheit, in Büchereien, die der Hort des Widerstands sind, und zu seiner Mutter. Die Hoffnung auf ein besseres Leben scheint möglich. Eine genauso spannende wie berührende Geschichte über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt. (Klappentext)

Ein wenig fühlte ich mich zu Beginn des Lesens an 1984 (George Orwell) erinnert, denn auch Bird und sein Vater leben in einem totalitären Überwachungsstaat - in den USA. Tatsächlich ist dies ein dystopischer Roman, der sich jedoch ganz nah an der Grenze der heutigen Realität entlangbewegt und deshalb so unbequem ist.

Birds Mutter (Asiatin) hat die Familie verlassen, als ihr Sohn noch klein war. Seither lebt Bird mit seinem Vater alleine in einer winzigen Wohneinheit in einem Studentenwohnheim. Der Vater, einst Professor und nun Mitarbeiter in der Uni-Bibliothek, verhält sich stets korrekt und pflichtbewusst und legt auch Bird dringend nahe, sich möglichst unauffällig zu verhalten und auch bei negativen Erlebnissen unbeteiligt zu tun. Mit dieser Prämisse und einer wohlwollenden Lehrerin ist Bird bisher gut durchs Leben gekommen, doch nun gerät einiges in Wallung.

Bird ist 12 Jahre alt, handelt zuweilen noch kindlich-naiv, beginnt sich mittlerweile aber auch eigenständig Gedanken zu machen. Er ist damit aufgewachsen, dass die Organisation PACT das gesellschaftliche Leben reglementiert, der Preserving American Culture and Traditions Act, das Gesetz zur Erhaltung amerikanischer Kultur und Traditionen. Ein Versprechen, die amerikanischen Werte zu schützen. Ein Versprechen, aufeinander aufzupassen. Ein Versprechen, dass diejenigen, die das Land mit unamerikanischen Ideen schwächen, mit Konsequenzen rechnen müssen. Ein Versprechen, das Willkür, Denunziation und Diskriminierung Tür und Tor öffnet. Ein Klima der Angst.

Im Fokus von PACT stehen asiatischstämmige Menschen, denn China wird in dem Roman nachgesagt, Schuld an vielen Missständen in den USA in der Vergangenheit zu tragen. Wem da jetzt der glücklicherweise nicht mehr amtierende ehemalige Präsident der USA Tr... einfällt: richtig. Hier kommt der unbequeme Realitätsbezug. Durch seine "feinfühlige" Polemik hat Tr... in den USA seit Corona eine deutliche Zunahme von Hasskriminalität gegen asiatischstämmige Amerikaner bewirkt (siehe z.B. hier: https://www.tagesanzeiger.ch/wie-corona-und-trump-den-hass-auf-asiaten-schuerten-557996351892 ). Mit den Auswüchsen von genau dieser Hasskriminalität sehen sich asiatischstämmige Menschen auch in diesem Roman konfrontiert. Drangsalierungen von Seiten des Staates aber auch von Seiten der Gesellschaft sind hier gang und gäbe.

Doch auch unabhängig von dem ehemlaigen Präsidenten gibt es in den USA fragwürdige Traditionen, die hier im Roman ebenfalls eine Bedeutung erhalten - so z.B. die Culture Wars an Schulen, das zunehmende Verbot von Büchern (bzw. der Versuch des Verbotes) durch Konservative und Rechte, und nicht zuletzt die Herausnahme von Kindern von Familien aus rassistischen und demografischen Gründen (American Natives, Trennung von Flüchtlingsfamilien an der mexikanischen Grenze). "Unsre verschwundenen Herzen" ist der Titel des Romans - und gleichzeitig der Titel eines Gedichtes, den die heimliche Untergrundbewegung gegen PACT als Slogan gewählt hat. Jedes einzelne aus der Familie genommene Kind ein verschwundenes Herz.

Bird ist der Kosename, den seine Mutter ihm einst gegeben hat, und nun hat der Junge einen Hinweis entdeckt, wo er seine Mutter finden könnte. Seit Jahren gibt es keinen Kontakt mehr, doch nun möchte Bird Antworten. Er macht sich auf den Weg...

Erzählt wird zunächst aus der Perspektive von Bird, später aus der seiner Mutter, um dann wieder zu Bird zurückzukehren. Gerade den Wechsel hin zur Perspektive der Mutter empfand ich zunächst als einen Bruch, die Erzählung verlor dadurch für mich ein wenig an Fluss. Auch der eher sachliche Berichtstil, den die Rückblenden oft einnahmen, wirkte deutlich distanzierter als alles davor. Andererseits ist es nachvollziehbar, dass die Lesenden (genau wie Bird) nur so letztlich das ganze Ausmaß der Dramatik sowie die notwendigen Zusammenhänge erfassen können.

Tatsächlich hat mir der Roman wirklich gut gefallen. Eine recht bedrückende aber nicht hoffnungslose Dystopie, die sich sehr nah an der Realität befindet und sowohl aktuelle als auch historische gesellschaftliche Missstände in den USA bemängelt. Eine deutliche Botschaft, die hier vermittelt wird, dazu für mich ausreichend emotionale Aspekte - oft nur angerissen, zuweilen jedoch auch sehr berührend.

Lesenswert!


© Parden

 
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