Rezension Rezension (4/5*) zu Underground Railroad: Roman von Colson Whitehead.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Eine düstere Mischung aus Fakten und Fiktion...

Ihr ganzes noch junges Leben hat Cora auf der Plantage der Randalls in Georgia verbracht. Als deren Sklavin. Jeden Tag der Willkür von Schlägen, Auspeitschungen und Vergewaltigungen ausgesetzt. Doch angespornt von Caesar, einem jungen Mann, der seit kurzem auch auf der Baumwollplantage der Randells arbeitet, wagt Cora eines Nachts die Flucht. Erst durch Sumpf und Wälder, verfolgt durch Farmarbeiter und Kopfgeldjäger, doch dann endlich die Rettung. Cora und Caesar erreichen eine geheime Station der Underground Railroad, einer geheimen Organisation, einem Fluchtnetzwerk für Sklaven.


"Die Treppe führte auf einen kleinen Bahnsteig. Zu beiden Seiten öffneten sich die schwarzen Mündungen des riesigen Tunnels. Er musste an die sieben Meter hoch sein, die Wände waren in wechselndem Muster mit dunklen und hellen Steinen verkleidet (...) Zwei Stahlschienen, mit Holzschwellen am Boden fixiert, liefen durch den sichtbaren Teil des Tunnels. Vermutlich verlief der Stahl von Süden nach Norden, ging von irgendeinem unvorstellbaren Ursprung aus und schoss irgendeiner wundersamen Endstation entgegen." (S. 82 f.)


Im Gegensatz zu der historisch verbrieften Underground Railroad, die zwischen 1780 und 1862 rund 100.000 Sklaven zur Flucht aus dem Süden der USA in den rettenden Norden verholfen hat, hat sich Colson Whitehead hier für eine reale unterirdische Eisenbahn entschieden, die streng geheimen Stationen durch meilenlange Tunnel miteinander verbunden. Cora steigt auf ihrer Flucht also in einen unterirdischen Zug und fährt gemeinsam mit Caesar nach Norden. Doch der Schrecken findet kein Ende. Cora dicht auf den Fersen ist der skrupellose Sklavenjäger Ridgeway mit seinen Gehilfen - einer von ihnen trägt eine Halskette aus menschlichen Ohren.

Unterstützung und Verrat - dies ist es, was Cora auf ihrem langen Weg aus der Sklaverei immer wieder erfährt. Cora reist mit der Underground Railroad durch das ganze Land - durch ein zerrissenes Land kurz vor dem Bürgerkrieg, in dem die Frage, wie man mit Sklaven umzugehen hat, ganz unterschiedlich behandelt wird. An jeder Station der Underground Railroad trifft sie auf andere Formen des Zusammenlebens von Schwarz und Weiß, und jede davon birgt Gefahren, denn der Rassismus lebt. In South Carolina beispielsweise können Schwarze auf den ersten Blick als freie Bürger leben, werden von den Weißen jedoch für grausame medizinische Experimente benutzt. In North Carolina dagegen haben die Regierenden beschlossen, aus Angst vor der zahlenmäßigen Übermacht der ehemaligen Sklaven konsequent alle Schwarzen zu töten. In Indiana findet Cora zeitweise Frieden und Freundschaft, doch auch dies stellt sich letztlich als Trugschluss heraus...


"Wenn die Nigger frei sein sollten, dann lägen sie nicht in Ketten. Wenn der rote Mann sein Land behalten sollte, dann besäße er es immer noch. Wenn es dem weißen Mann nicht bestimmt wäre, diese neue Welt in Besitz zu nehmen, dann würde sie ihm jetzt nicht gehören (...) Dein Eigentum, ob Sklave oder Kontinent. Der amerikanische Imperativ." (S. 97)


Colson Whitehead schafft hier eine interessante Mischung aus historischen Fakten und Fiktion, die seinem Roman eine unwiderstehliche Bildhaftigkeit verschafft. Und doch ist es kein historischer Roman, auch kein Fantasy-Buch, sondern tatsächlich ein Stück zeitgenössicher Literatur. Ein Roman, der aufzeigt, dass das Trauma der Sklaverei in den USA auch 150 nach ihrer Abschaffung noch nachwirkt, dass Rassismus - ob offen oder verborgen - noch an der Tagesordnung ist. Whitehead präsentiert mit seinem u.a. mit dem Pulitzer Preis 2017 prämierten Roman eine düstere Allegorie auf das Leben der Schwarzen in den Vereinigten Staaten - auf ihre Unterdrückung, Verfolgung und Ausgrenzung, die bis heute den Alltag prägen.

Nahezu nüchtern ist der von Whitehead gewählte Schreibstil, so dass das Entsetzen, das Mitfühlen, das Bedauern beim Lesen nicht unmittelbar eintritt, auch wenn sich kurzzeitige Schreckmomente häufen, wenn einem unvorbereitet unfassbare Grausamkeiten in einem lapidaren Nebensatz entgegenschlagen. Dass sich im Laufe der Lektüre dennoch eine zunehmende Düsternis einschleicht, liegt nur z.T. an der ungeschönten Schilderung der zahlreichen Gewalttaten und Todesopfer. Während man zu Beginn darauf hofft, dass Cora ihrem Dasein als entrechtete Sklavin entrinnt, stellt sich bald eine wachsende Ernüchterung ein.


"...der amerikanische Geist (...) damit wir erobern, aufbauen und zivilisieren. Und zerstören, was zerstört werden muss. Um die unbedeutenderen Rassen emporzuheben. Und wenn nicht emporzuheben, dann zu unterwerfen. Und wenn nicht zu unterwerfen, dann auszurotten. Unsere Bestimmung kraft göttlicher Vorschrift - der amerikanische Imperativ." (S. 255)


Nicht nur das Bewusstsein für den immer noch alltäglichen Rassismus in den USA erwächst beim Lesen, sondern es werden auch Parallelen zum Leben in Deutschland / Europa deutlich und eigentlich zum menschlichen Handeln weltweit. Unterdrückung, Vertreibung, Eroberung, Ausbeutung, Ghettoisierung, Sklaventum - das sind doch keine Phänomene der Vergangenheit und auch nichts, was sich auf ein einzelnes Land beschränken lässt. Natürlich steht das strahlende Amerika auf einem Fundament von Blut und Schuld, unbestritten. Aber können wir tatsächlich mit dem Finger auf 'die da' zeigen? Ich denke, nicht so ohne weiteres. Wenn dieses Buch dem Leser eines austreibt, dann ist es die Selbstgefälligkeit. Und das macht diesen Roman zu einem unbequemen.

Colson Whitehead präsentiert hier einen Roman, der mich in mehrfacher Hinsicht überraschte, der mich trotz einiger Längen überzeugen konnte und der mich vor allem nachdenklich gemacht hat. Hier steckt sehr viel mehr drin, als auf den ersten Blick zu vermuten war. Insofern gibt es von mir eine klare Leseempfehlung!


© Parden