Rezension Rezension (4/5*) zu Über uns: Roman von Eshkol Nevo.

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7. Juni 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Über uns: Roman von Eshkol Nevo
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Drei Geschichten aus Tel Aviv

Von einem Roman erwartet man normalerweise den Auftritt von Protagonisten, die miteinander interagieren und Handlungsstränge, die zumindest am Ende zusammengeführt werden. In Eshkol Nevos Roman "Über und" werden diese Erwartungen nicht unbedingt erfüllt. Wir Leser lernen drei Protagonisten kennen. Jeder dieser drei Personen befindet sich gerade in einer schwierigen emotionalen Situation. Sie erzählen jeweils unterschiedlichen Zuhörern, fast wie in einem Monolog von Ihren Nöten, Ängsten und Sorgen. Diese drei Personen interagieren jedoch kaum, die Erzählungen sind scheinbar unabhängig voneinander. Gemeinsam ist allen drei Protagonisten lediglich, dass sie im selben Haus wohnen: einem dreistöckigen Mehrfamilienhaus in Tel Aviv.
In der untersten Etage wohnt der Familienvater Arnon, der seine Sorgen einem Freund anvertraut. Er hat den Verdacht, dass seine Tochter von einem Nachbarn sexuell belästigt worden ist. Sympathisch ist dieser Arnon nicht, denn er scheint jähzornig zu sein und berichtet zuletzt noch von seinen sexuellen Erfahrungen mit einer Minderjährigen.
In der zweiten Etagen lebt eine junge Mutter, die sich gerade in Elternzeit befindet und deren Mann nur selten zuhause ist, Sie kommt mit diesem Hausfrauendasein nicht zurecht, fühlt sich einsam und hat Angst den Verstand zu verlieren. In dieser Situation schreibt sie einen langen Brief an ihre, in den USA lebende, Freundin. Das Ende des Briefes lässt Hoffnung auf eine Wende in ihrem Leben zu.
In der oberen Etage wohnt eine Witwe, deren Ehemann Richter war. Auch die Witwe selbst hat früher als Richterin gearbeitet. Die Pensionärin findet einen alten Anrufbeantworter ihres Mannes und spricht durch diesen Apparat mit ihrem verstorbenen Mann. Dabei gelingt es ihr allmählich, sich innerlich von den strengen moralischen Regeln, nach denen ihr Mann gelebt hatte und an die sie sich angepasst hatte, zu lösen.
Drei Konflikte auf drei Ebenen: einen Konflikt um die Triebe, einen um das Verhältnis zur Realität und ein moralisches Dilemma. Das erinnert an das Strukturmodell von Freud mit den Bereichen: Es, Ich und Über-ich. Der Autor selbst gibt einen Hinweis darauf indem er die Witwe gegen Ende des Romans in Freuds Werken lesen lässt. Er plädiert dafür, dass wir die verschieden Geschichten auf verschiedene Art lesen können. Mit Verständnis für die Fehler der Menschen, unter sachlichen oder moralischen Gesichtspunkten.
Dvorhah, die ehemalige Richterin, sagt an einer Stelle: Verstehst du, Sigmund Freud war ein kluger Mann, aber gesten Nacht, nachdem ich das letzte Werk seiner Gesamtausgabe fertiggelesen hatte,...dachte ich bei mir, dass er doch mindestens einem Irrtum aufgesessen ist. Ein Seelenhaus mit seinen drei Etagen existiert in uns überhaupt nicht. Diese drei Etagen sind in der Luft zwischen uns und jemand anderem, im Abstand zwischen unserem Mund und dem Ohr desjenigen, dem wir unsere Geschichte erzählen."
Das Stukturmodell von Freud könnte also eine Klammer sein für diese drei inhaltlich unabhängigen Erzählungen. Der Roman lässt jedoch noch Raum für die Suche nach weiteren Gemeinsamkeiten. Da ist ja auch die Tatsache, dass alle drei Protagonisten in Israel, einem Land, das sich im Dauerbelagerungszustand befindet, aufgewachsen sind. Alle erzählen von ihrer Militärzeit, von Wachdiensten und gefährlichen Situationen.
Ich habe den Roman gern gelesen. Der Sprachstil ist flüssig und leicht, oft eine Art Alltagssprache. Die drei Geschichten sind von ihrer Qualität her jedoch recht verschieden. So bereitet die Lektüre der ersten Geschichte nicht immer Vergnügen. Schließlich muss man sich die Ausreden eines unsympathischen Cholerikers "anhören". Die zweite und die dritte Geschichte ist jeweils spannender erzählt. Insbesondere die letzte Erzählung ist zudem sehr vielschichtig und hinterlässt beim Lesen die meisten Spuren.
Insgesamt darf man von "Über und" keinen in sich geschlossenen Roman erwarten. Dafür ist die freudsche Klammer zu konstruiert. Aber die Erzählungen geben auf leicht zu lesende Weise Einblick in seelische Abgründe und vermitteln gesellschaftliche Eindrücke aus dem heutigen Israel.


 
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