Rezension (4/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.622
16.632
49
Rhönrand bei Fulda
Es brodelt an den Rändern

Tristan ist eine Vulkaninsel im südlichen Atlantik, die als entlegenster bewohnter Ort der Welt gilt. Die Insel ist nicht mal ganz 100 Quadratkilometer groß und bietet einer sehr überschaubaren Anzahl von Einwanderern - nicht mehr als eine Handvoll Familien - ein karges Zuhause. Auf dem wenigen bestellbaren Boden gibt es Gemüseanbau (hauptsächlich Kartoffeln), etwas Schafzucht, daneben Fischerei und Handel mit dem wertvollen Guano, den die Einheimischen auf den benachbarten, unbewohnten Inseln sammeln. Wenig Abwechslung, viel Mühe und Arbeit - so beschreibt die finnische Autorin Marianna Kurtto das Leben der Einheimischen.

Der Roman beginnt 1961 mit zwei Familien im Mittelpunkt: Lise, eine Frau von vierzig, wurde von ihrem Mann, dem Seemann Lars, verlassen; jedenfalls ist er von seiner letzten Fahrt nicht zurückgekommen. Sie lebt seitdem allein mit ihrem Sohn Jon. Die jüngere Martha ist die Lehrerin der Insel; sie ist verheiratet mit dem etwas antriebslosen Bert. Bisher haben die beiden zu ihrem Kummer keine Kinder. Beide Frauen sind unzufrieden, haben sich mehr erhofft und wünschen sich, wenn auch unausgesprochen, von der Insel weg. Ihre Einsamkeit wird in beredten Worten deutlich: "Fort von hier" wünscht sich Martha, in deren Zuhause "die Stille von der Küchendecke hing wie eine erstickte Fledermaus" (S. 131). Und über Lise: "Lise hat ein Kind, ihr Mann ist fort. Ein am Grund zerbröckelter Krebs oder einer, der ans Ufer kam und sich einen neuen Panzer wachsen ließ" (S. 19). Sie weiß, dass Lars sich in England einer anderen Frau zugewandt hat. Ihr Sohn Jon, ein Neunjähriger, ist verschlossen und in sich gekehrt; der Vater fehlt ihm.

In einigen Rückblenden wird deutlich, wie die Inselgemeinschaft funktioniert, wie man tanzen geht, einander nachbarschaftlich hilft, gemeinsam arbeitet. Aber auch, wie viel in diesem engen Zusammenhalt voreinander verschwiegen wird und wie viel im Untergrund brodelt. Der ruhelose Vulkan von Tristan ist der passende Hintergrund für eine Geschichte, in der man einander vieles schuldet und nicht voneinander wegkommt. Mit dem (historisch verbürgten) Vulkanausbruch von 1961 kommt eine entscheidende Wende. Die Bevölkerung von Tristan soll per Schiff nach Kapstadt evakuiert werden, aber nicht jeder will ohne weiteres mit.

Marianna Kurtto ist eigentlich Lyrikerin, was ihrem Stil anzumerken ist. Sie benennt die Gefühle ihrer Figuren nicht direkt, sondern mit poetischen Bildern und Vergleichen, die sich zwanglos erschließen, aber auch eine eigentümliche Vagheit schaffen - bisweilen schien es mir (mein ganz persönlicher Eindruck), dass sie eher Typen schildert als Individuen. Oder anders gesagt: entsprechend der Titelillustration erkennen wir die brodelnden Emotionen am Handeln der Personen, ein dunkler Kern im Innern bleibt uns aber verschlossen. Andererseits gelingt es Kurtto gerade durch diese Undurchsichtigkeit, voreilige Deutungen zu erzeugen. In der Leserunde hat so gut wie jeder Teilnehmer, wie sich herausstellte, wichtige Handlungsabschnitte falsch gedeutet und letztlich Charaktere falsch "gelesen". Es kann eine hinreißende Leseerfahrung sein, festzustellen, wie leicht man in Denkfallen getappt ist, und die Autorin löst am Ende jedes Rätsel auf und gibt sogar einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft vor. Trotzdem hat mich die beschriebene Undurchsichtigkeit in der Schilderung letztlich daran gehindert, das fünfte Sternchen aufzulegen. Das Buch ist hochinteressant (schon wegen des Schauplatzes), sprachlich ambitioniert und bietet eine spannende Handlung - ich bin trotzdem nicht so richtig warm damit geworden. Trotzdem ausdrückliche Leseempfehlung, da es sich um einen sehr persönlichen Eindruck handelt.