Rezension (4/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

RuLeka

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30. Januar 2018
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Brodeln im Innern der Figuren

Tristan da Cunha ist eine kleine Vulkaninsel im Südatlantik, ca. 2800 Kilometer vom Kap der guten Hoffnung entfernt. Knapp 250 Menschen leben auf dem rauen Eiland. Im Oktober 1961 kam es dort zu einem größeren Erdbeben und in Folge darauf zu einem Vulkanausbruch. Die Einwohner mussten evakuiert werden und kamen nach Kapstadt. Die meisten von ihnen kehrten später aber wieder in ihre Heimat zurück.
Dieses Geschehen bildet den Hintergrund für Marianna Kurttos Roman „ Tristania“. Die finnische Autorin, 1980 in Helsinki geboren, hat zuvor fünf Gedichtbände veröffentlicht und ihr Debutroman wurde für den Preis des Nordischen Rates nominiert.
Im Zentrum der Geschichte stehen zwei Familien, Lars und Lise mit ihrem Sohn Jon und das kinderlose Ehepaar Martha und Bert.
Den Fischer Lars treibt es immer wieder hinaus. Als Fischereihändler reist er oft bis nach England und bringt von dort Geschenke für Frau und Sohn mit. Doch das wiegt längst nicht die lange Zeit des Alleinseins auf. Und als Lars sich eines Tages in eine Londoner Blumenverkäuferin verliebt und nicht mehr zurückkehrt, müssen Lise und Jon allein klarkommen.
Auch Martha, die junge Lehrerin von Jon, träumt sich weg von der Insel; sie spürt wie Lars eine große Sehnsucht nach der weiten Welt. Anders ihr Mann Bert. Er ist zufrieden mit dem einfachen Leben, mit dem täglichen Einerlei. Die Ehe der beiden, die so hoffnungsfroh begonnen wurde, wird überschattet von einem dunklen Geheimnis, das Martha belastet. Sie hatte gehofft, dass ein gemeinsames Kind die Erinnerung auslöschen würde, doch dieses Glück war ihnen nicht vergönnt. Und Bert spürt, dass er seiner Frau nicht helfen kann. „ Etwas war kaputt, von Anfang an, ich konnte es nicht reparieren.“
Neben den zwei Paaren haben noch weitere Figuren ihren Auftritt, so z.B. Lises Freundin Elide , die mit ihren sechs Kindern genug zu tun hat oder Marthas depressive Mutter.
Die Autorin beschreibt die harten Lebensbedingungen auf der Insel, die bestimmt werden durch die Kräfte der Natur, den Wind, den Regen, das Meer, die Kargheit der Landschaft . Doch im Wesentlichen geht es um das Innenleben der Figuren. Obwohl eine so kleine Gemeinschaft es mit sich bringt, dass jeder jeden kennt, so haben doch alle ihre Geheimnisse.
Lars ist hin - und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner Frau und seinem Sohn und der Sehnsucht danach, die Enge der Insel hinter sich zu lassen. Mit einer jüngeren Frau beginnt er ein neues Leben, aber das alte lässt sich nicht so einfach abschütteln.
Jon ist anders als die anderen Kinder. Er ist verträumt und leidet unter der Abwesenheit des Vaters und der Trauer seiner Mutter.
Martha quälen immer wieder schreckliche Träume, die in einem traumatischen Erlebnis in ihrer Vergangenheit begründet sind.
Dann bricht der Vulkan aus und alles kommt in Bewegung. „ …denn der Berg hat ja aus ihnen allen Opfer gemacht, hat sie von seinen Hängen abgeworfen und gezwungen, nachzuschauen, was sie auf dem Grund der Schlucht erwartet.“
Der Roman erzählt von der Liebe zur Heimat und der Sehnsucht nach der Ferne, von Schuld und Verantwortung, von Liebe und Hass. Über allem schwebt eine melancholische Grundstimmung.
Marianna Kurtto entwickelt ihre Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, mal lässt sie die Figuren selbst zu Wort kommen, dann spricht wieder ein auktorialer Erzähler. Auch die Orts- und Zeitebenen wechseln, mal sind wir in die 1950er Jahren, dann im Jahr 1961, mal auf Tristana, dann wieder in London oder Kapstadt. Das und die Art des Erzählens verlangen einen aufmerksamen Leser.
Der Roman hält mit unerwarteten Überraschungen die Spannung aufrecht und zum Ende hin gibt es nochmals einen dramatischen Wendepunkt, der den Leser atemlos innehalten lässt. Ständig ist man gezwungen, das Bild, das man sich von den einzelnen Figuren gemacht hat, in Frage zu stellen oder zu revidieren.
Die Sprache ist dicht und außergewöhnlich poetisch. Hier spürt man, dass eine Lyrikerin am Werke ist. Bilderreich, voller ungewohnter Metaphern beschreibt die Autorin die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Figuren und die raue Schönheit der Natur.
Leider gibt es für mich ein paar Kritikpunkte, weshalb ich dem Roman nicht die volle Punktzahl geben kann.
In den einzelnen Erzählerstimmen konnte ich keine sprachlichen Unterschiede ausmachen, obwohl es sich um sehr unterschiedliche Personen handelt. Der durchgängig hohe poetische Ton ließ mich auch keine Nähe zu ihnen entwickeln. Manchmal hatte ich den Verdacht, die Autorin wolle unbedingt kryptisch schreiben, um den Leser gezielt in die Irre zu führen. Und das beinahe märchenhafte Ende konnte mich letztlich auch nicht ganz überzeugen. Zu konstruiert erschienen mir die Ereignisse.
Trotz meiner Einwände spreche ich gerne eine Leseempfehlung für dieses poetische und atmosphärisch dichte Buch aus.
Hervorzuheben ist auch die wunderbare Übersetzung von Stefan Moster.