Rezension (4/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Es brodelt

Oktober, 1961: Als auf der kleinen südatlantischen Insel Tristan da Cunha der Vulkan ausbricht, geht es für die Menschen dort nicht nur um die Rettung ihrer eigenen Leben. Denn zusammen mit der Lava brechen Geheimnisse und Gefühle hervor, die fast genauso lange unter der Oberfläche brodelten wie das bedrohliche Magma. Im Epizentrum des Ausbruchs: Lehrerin Martha, ihre Nachbarin Lise und deren nach England geflohener Mann Lars sowie Jon, Lises und Lars' Sohn.

Wer den Namen "Tristania" liest, erinnert sich zunächst vielleicht an die gleichnamige norwegische Gothic Metal-Band, die um die Jahrtausendwende in der Szene mit einigen gutklassigen Alben durchaus Beachtung fand. Was den Debütroman der finnischen Autorin Marianna Kurtto mit dieser Band verbindet, ist der traurige Grundton, der sich wie ein glühender Lavastrom durch die 300 Seiten bewegt. Die zweite Auffälligkeit betrifft den Übersetzer Stefan Moster, der sich in für ihn nicht unbekannten Gefilden bewegt. Denn schon im letzten Jahr reiste Moster für den mare-Verlag literarisch auf eine Insel des Südatlantiks und begleitete in Olli Jalonens herausragendem Roman "Die Himmelskugel" den kleinen Angus auf St. Helena.

Gleich zu Beginn fällt den Leser:innen die poetische Sprache auf, die Kurtto im Prolog genial einsetzt, um die Wellen vor Tristan auf die Suche nach menschlichem Leben nach dem - übrigens historisch belegten - Vulkanausbruch zu schicken. Diese Poesie behält sie für den Rest des Romans bei, wobei der Einsatz nicht immer gleichermaßen gelungen ist. Schöne und treffende Bilder wechseln sich mit bemüht wirkenden Vergleichen ab. Zudem verhindert die etwas artifiziell wirkende Sprache eine nähere Verbindung zu den Figuren.

Meisterlich ist hingegen die Komposition des Romans. Insbesondere bei der Figurenentwicklung gelingt es Kurtto, mit den Erwartungen der Leserschaft zu spielen und ihr immer wieder den Spiegel vorzuhalten, um festgelegte Vorurteile zu hinterfragen und wieder über den Haufen zu werfen. Dies gelingt ihr durch die verschiedenen Perspektiven der Charaktere. Wir folgen den Ich-Erzählern Jon und Lars und lassen uns von einem personalen Erzähler durch die Gedankenwelten von Martha und Lise begleiten. Doch Kurtto belässt es nicht bei den Protagonist:innen, sondern spielt dieses Spiel bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. So entpuppt sich eine eigentlich schwache Figur als eigentliche Heldin, während ein vermeintlich rechtschaffener Charakter das vielleicht dunkelste Geheimnis hütet.

Sehr gut hat mir zudem die Empathie der Autorin für ihre Figuren gefallen. Zwar schickt sie sie auf eine melancholische und traurige Reise, schenkt ihnen aber immer auch Hoffnung und zarte Momente des Glücks. Ganz erstaunlich ist auch, wie es Kurtto gelingt, trotz des durchweg ruhigen Erzähltempos gerade in der zweiten Hälfte des Romans eine intensive und hochdramatische Spannung zu erzeugen.

Nun ist es schwer, diese Rezension zu verfassen, ohne auf das Finale einzugehen. In der Tat ist es am besten, sich auf dieses einzulassen und vorher so wenig wie möglich darüber zu wissen. Nur so viel sei gesagt: Es gibt einen wahrlich dramatischen Wendepunkt in der Geschichte, der die Leserschaft spalten und ungläubig zurücklassen wird. In der jüngeren Literatur hat zuletzt vielleicht Alex Schulman mit "Die Überlebenden" für einen ähnlichen Effekt gesorgt.

Insgesamt ist "Tristania" ein lesenswerter und gelungener Roman mit bemerkenswerter Figurenkonzeption und einem traurig-leisen und dennoch hochspannenden Plot, der allerdings sprachlich manchmal zu viel will und im Finale aufgrund eines Überraschungseffekts ein wenig an Glaubwürdigkeit einbüßt. Um in eine passende melancholische Stimmung zu kommen, lesen Sie zur Einstimmung auf den Roman am besten den wunderbaren Prolog - und hören ganz nebenbei einmal "Beyond The Veil", das wohl beste Album von Tristania aus dem Jahre 1999.

 

Literaturhexle

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Meine Güte, Christian: deine Rezensionen wirken wie mit leichter Feder dahin geschrieben. Dabei bringst du alles messerscharf auf den Punkt, kannst Pros und Cons wunderbar strukturiert darlegen, definierst genau deine Subjektivität...
"Master of Review"- ein passender Titel;)

(Den sich viele andere hier aber auch verdienen. Unbedingt.)
 

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