Rezension Rezension (4/5*) zu Thanksgiving von Tracy Barone.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Happy Family...

Am 5. August 1962 stirbt nicht nur Marilyn Monroe, sondern es erblickt auch ein kleines Mädchen das Licht der Welt. In der Klinik herrschen an diesem Tag aufgrund einer Massenkarambolage chaotische Zustände, und es dauert lange, bis eine Schwester die 16- oder 17-jährige Miriam bemerkt, die schon in den letzten Zügen der Geburt liegt. Gleich nach der Geburt kann das drogensüchtige Mädchen deshalb auch unbemerkt wieder die Klinik verlassen, lässt ihr Baby aber dort zurück.

Der Radiologe Solomon Matzner hat sich unsterblich in eine bildschöne Italienerin verliebt und gegen den Widerstand seiner Familie beschlossen, diese Cici auch zu heiraten. Dafür konvertiert er sogar vom Judentum zum Katholizismus und nimmt dafür in Kauf, von seiner Familie verstoßen zu werden. Geplant ist, dass Cici nicht arbeiten gehen soll, sondern sich um die Kinder kümmern wird, die da kommen sollen. Doch bereits in der ersten Schwangerschaft geht alles schief. Der Sohn kommt viel zu früh auf die Welt, stirbt nach wenigen Stunden, und Cici kann aufgrund der nachfolgenden Notoperation nie wieder Kinder bekommen.

Die junge Frau verfällt in tiefe Depressionen, pumpt Milch ab für ein Kind, das sie nicht braucht, und verlässt ihr Schlafzimmer nicht mehr. Sol weiß sich nur auf eine Art zu helfen: ein Ersatzkind muss her. Und so holt er das kleine, von seiner Mutter verlassene Mädchen in sein und Cicis Haus und schenkt seiner Frau damit ihre Lebensfreude wieder. Cheri, so wird das Mädchen genannt, wird fortan heiß und innig geliebt und wächst bewacht und behütet auf. Und doch ist dem Kind ein Widerstandsgeist zueigen, der den Umgang mit ihr anstrengend erscheinen lässt - Cheri ist nicht bereit, einfach so die Erwartungen anderer zu erfüllen...

Diese Erzählung ist wie der Weg der Suche Cheris nach sich selbst und ihrem Platz im Leben lang und mäandernd. So wird hier nicht chronologisch von ihrem Leben berichtet, sondern vor- und zurückspringend in Zeit und Geschehen, anfangs oft nur in Andeutungen, später in Situationen des Erkennens und der gelüfteten Geheimnisse. Cheri als Hauptcharakter bleibt nicht nur ihrer Umwelt, sondern auch dem Leser über lange Phasen unnahbar.

Sie erscheint als toughe Frau, eine unkonventionelle Professorin, die kurz vor Ablauf der biologischen Uhr noch versucht schwanger zu werden, dafür auch alle Strapazen der Unfruchtbarkeitsbehandlung über sich ergehen lässt, gleichzeitig aber unleugbar in Eheproblemen feststeckt. Gleichzeitig lassen Andeutungen erahnen, dass dies nicht die erste schwere Krise in ihrem Leben ist, dass sie derzeit aber immerhin versucht, einem 'normalen' Leben so nahe zu kommen, wie es ihr möglich scheint.

Dass hinter der toughen Schale eine große Verletztheit steckt, alte Wunden nur schorfig und schlecht vernarbt verheilt sind, wird schnell deutlich. Cheri, das adoptierte Mädchen, hatte nie wirklich das Gefühl gehabt, zu ihrer Familie zu gehören. Sol schien immer eifersüchtig auf sie zu sein, weil Cici ihre ganze Liebe auf das Kind richtete. Und Cici erdrückte sie mit ihrer Liebe, ohne wirklich ein Gespür dafür zu haben, wer Cheri eigentlich war. Und so steckt bis heute ein tiefes Gefühl in Cheri, nie das bekommen zu haben, was sie eigentlich gebraucht hätte: ein wirkliches Gefühl der Zugehörigkeit...

Dieser Roman erzählt von der Suche Cheris nach Antworten, nach sich selbst, nach ihren Wurzeln, nach ihrem Weg - und nach ihrem Platz im Leben. Im lezten Viertel reißt endlich die harte Fassade ein, die Cheri um sich errichtet hatte - und ihre Umgebung wie auch der Leser erhält die Möglichkeit, ihr näher zu kommen. Das letzte Viertel hat mich versöhnt mit der Erzählung, die mich über weite Strecken außen vor ließ. Endlich hatten Trauer, Menschlichkeit und Wärme Einlass gefunden und mich mitschwingen lassen...

Mehrere Indizien lassen darauf schließen, dass Tracy Barone in ihrem Debüt auch autobiografische Anteile verarbeitet hat. Diese Vorstellung fand ich gerade gegen Ende sehr berührend. Und so bleibt mir nur der Wunsch, dass Cheri oder Tracy ihren Platz im Leben gefunden haben mögen und sich dabei immer treu bleiben können...

Ein Roman, dem ich über lange Strecken recht gleichgültig gegenüberstand, der mich aber im letzten Viertel überrollte und überzeugen konnte... Empfehlenswert!


© Parden