Rezension (4/5*) zu Taube und Wildente von Martin Mosebach

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Taube und Wildente von Martin Mosebach
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Bitterböses Sittenbild der gehobenen Gesellschaft

Bereits der erste Satz stimmt auf das Geschehen ein, dessen Grundthematik motivisch immer wieder auftaucht: „Grausamkeit. Zuschauen, wie etwas Schönes zerfetzt wird.“

Marjorie De Kesel stammt aus großbürgerlichen Verhältnissen. Ihr Großvater erwarb sein Vermögen in den kongolesischen Kolonien. Es wurde vermehrt und verwaltet. Vater Cornelius gründete eine Stiftung, die sein Vermächtnis mit strenger Hand fortführt, den beiden Töchtern aber auch ein auskömmliches, arbeitsfreies Leben ermöglicht. Teil der Stiftung ist das traumhaft gelegene Anwesen La Chaumière in der französischen Provence, in dem Marjorie alljährlich ihre Sommer verbringt. Mit von der Partie sind ihr zweiter Mann Ruprecht Dalandt, angesehener Verleger eines wenig gewinnbringenden Kleinverlags, ihre Tochter Paula, deren Freund Max sowie die 6-jährige eigenwillige Enkelin Nike. Pikant: Paula bekam das Mädchen im Alter von 16 Jahren, der Vater gilt als unbekannt.

Es ist eine kuriose Scheinwelt, die wir vorgeführt bekommen - nicht einmal der Wein zeigt Charakter. Das Anwesen wird durch das portugiesische Ehepaar dos Santos in Ordnung gehalten. Die Aufgaben des englischen Verwalters Damien Deveraux sind eher unbestimmt - in erster Linie ist er wohl der Liebhaber Marjories. In die Sommerfrische eingeladen wurden zusätzlich die Verlagsmitarbeiter Sieglinde Stiegle und Fritz Allmendinger. Was sich aus diesem Figurenkarussell entwickelt, ist eine Art bildungsbürgerliches Kammerspiel. Das Ehepaar Dalandt ist stolz auf sein ‚bescheidenes‘ Landhaus, dessen Wände mit zahlreichen wertvollen Gemälden geschmückt sind, über die man sich gerne ausführlich auslässt, um die Zuhörer zu beeindrucken. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät schnell das unscheinbare Jagdstillleben „Tote Feldtaube und Wildente“, das von Otto Scholderer im Jahr 1884 gemalt wurde. Ruprecht erkennt plötzlich seine Affinität zu diesem Bild, er preist dessen außerordentliche Eleganz. Marjorie, der das Bild bislang nichts bedeutete, ermisst dessen potentiellen Verkaufserlös, weil sie Geld für eine notwendige Dachreparatur benötigt. Ein (Stellvertreter-)Kampf um die Kunst entbrennt, den keiner wirklich gewinnen kann. Das Bild wird zum Spielball der Eheleute.

Doch dieses ist bei weitem nicht der einzige schwelende Konflikt. Die Figuren sind allesamt unsympathisch und moralisch fragwürdig. Sie leben gefühlskalt nebeneinander her, jeder ist bedacht auf seinen Vorteil. Das Ehepaar belauert, verbeißt, lügt und betrügt sich, hält nach außen aber den Schein aufrecht. Die diesbezüglichen Dialoge sind messerscharf und zum Teil sehr subtil. Mutter und Tochter verhalten sich völlig konträr zueinander, man spürt den Jahre alten, dahinter verborgenen tiefen Graben. Nicht einmal das Enkelkind Nike vermag die Herzen der Großeltern zu erreichen, was zu Aufmerksamkeit heischenden, zerstörerischen Aktionen des Kindes führt. Nach und nach offenbart sich dem Leser die Dysfunktionalität dieser dekadenten Familie, die auch ihr Umfeld fleißig mit spitzzüngigen Bösartigkeiten überzieht. Auch die Zuschauer Stiegle und Allmendinger, an deren Eindrücken und Gedanken wir gleichfalls teilhaben dürfen, passen in dieses von Misstrauen und Neid geprägte Bild. Weitere Perspektiven beleuchtet der auktoriale Erzähler. Einzig Max sowie der Schampir, ein Freund der Familie, fallen dabei aus dem Rahmen. Die Charaktere werden immer deutlicher enthüllt. Ganz offensichtlich will der Autor den Blick hinter die lieblose Fassade des großbürgerlichen Glanzes lenken.

Mir imponiert Mosebachs höchst eleganter Sprachstil, der bestens zur Handlung passt. Die Sätze wirken vornehm und geschliffen, er findet treffende Formulierungen, die man genießen und in denen man schwelgen kann. Schreiben kann Mosebach, bei dem ich allerdings eine gewisse Altväterlichkeit zu entdecken meine – nicht nur, was die Frauenfiguren betrifft, die fast alle entweder Berufstöchter sind oder zum Dienstpersonal gehören. Konsequent wird die alte Deutsche Rechtschreibung benutzt, manches Fremdwort muss man nachschlagen und die Tatsache, dass man im Roman „telephoniert“ statt zu telefonieren, halte ich für einen bildungsbürgerlichen Fehlgriff.

Wer belesen ist, darf sich an literarischen Verweisen von Dante bis in die Neuzeit freuen. Etwas gelangweilt habe ich mich an den Ergüssen über die Kunst des 19. Jahrhunderts. Die Handlung entwickelt sich langsam. Im Vorteil sind all jene Leser, die sich allein schon an der komplexen Sprachgestaltung sowie der außergewöhnlichen Beobachtungsgabe des Autors erfreuen können. Mosebach versteht es, Atmosphäre zu schaffen. Dabei ist die Diskrepanz zwischen der traumhaften, hochsommerlichen Kulisse und den dort agierenden Figuren mit Sicherheit gewollt. Es wird überzeichnet und übertrieben, nicht alles wirkt realistisch. Stereotype werden bedient, die die feine Gesellschaft enttarnen sollen. Irgendwie macht das Spaß, auch wenn ich den Roman nicht als Satire begreife. Man amüsiert sich als Leser über die Blasiertheit und Arroganz einer Gesellschaftsschicht, die man meist nur aus der Ferne beobachten kann. Auch die Überhöhung des eigentlich völlig unscheinbaren titelgebenden Gemäldes fasziniert bis zum Ende, wenn der Romanaufbau auf einen späten, dramatischen Höhepunkt zusteuert. Mosebach lässt interpretatorische Spielräume. Man darf nachdenken darüber, was der Autor uns sagen will.

Auch wenn der Roman für mich hier und da manche „kunstvolle“ Länge aufwies, halte ich ihn insgesamt doch für sehr gelungen und lesenswert. Ich empfehle ihn allen, die sich nicht vom äußeren Schein einer elitären Klasse blenden lassen wollen. Der Roman ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass Geld allein nicht glücklich macht.

Leseempfehlung!

 

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