Rezension (4/5*) zu Stories von Joy Williams

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.639
16.697
49
Rhönrand bei Fulda
"Früher war nie so viel von Rost und Verrottung die Rede ..."




Joy Williams, geboren 1944, ist eine US-amerikanische Autorin, die u.a. fünf Romane und etliche Erzählungen veröffentlicht hat. Hierzulande scheint sie jedoch kaum jemand zu kennen; mir war sie kein Begriff. Das ändert sich nun durch diesen Band mit dem schlichten Titel "Stories", der dreizehn Erzählungen versammelt, erstveröffentlicht zwischen 1972 und 2014. Sie sind kurz genug, dass man jede in einem Rutsch lesen kann, und - ein wesentliches Charakteristikum - sie sind so verdichtet und voll mit ungewöhnlichen Details, dass man oft gleich nach dem letzten Punkt wieder von vorne beginnen möchte.

Ausgangspunkt in diesen Erzählungen, in denen fast immer eine Frau, ein Mädchen, eine junge oder ältere Mutter im Mittelpunkt steht, ist eine Grenzsituation: Eine todkranke Frau versucht ihre letzten Lebenswochen zu gestalten. Eine Frau hilft einer abgebrannten Familie und verschuldet sich selbst dabei. Eine Gruppe Mütter, die der Umstand eint, dass ihre Kinder Morde begangen haben, trifft sich regelmäßig zum Gespräch. Eine Frau verliebt sich in eine aus Tierhufen gebastelte kleine Lampe (meine persönliche Lieblingsgeschichte). Das Umfeld all dieser Personen ist bizarr, ihr eigener Zugang zur Realität ungewöhnlich und manchmal kaum nachvollziehbar, selbst wenn man einige Skurrilitäten dem "american way of life" zuschreibt. Joy Williams selbst kommentiert ihre Geschichten nicht, gibt keine Deutungen vor und fällt keine Urteile über ihre Figuren. Ihre Charakterisierungen sind bruchstückhaft und oft nicht leicht nachzuvollziehen: "Tommy (ein neunjähriger Junge) fand Seile gut. Manchmal aß er Dreck. Gewitter begeisterten ihn. (...) Oft verstrichen Wochen, in denen er kein Stück wuchs."

Der Erzählton dieser schwer zu fassenden Texte bringt es mit sich, dass die Leserin in jeder prominent erscheinenden Einzelheit ein quid pro quo erkennen möchte: ein erschossener Hase, eine abgelegte Schlangenhaut oder die erwähnte Lampe aus Tierhufen. Eine zweite und dritte Erzählebene scheint diffus durch das berichtete Geschehen und will gedeutet werden, wie bei den 3D-Bildern, bei denen man die Augen bewusst neu einstellen muss. Ein Beispiel dieser Erzähltechnik, die ständig den Blick in dahinter liegende Räume zu öffnen scheint - über den Prediger Jones, dessen Frau an einer tödlichen Blutkrankheit leidet: "Jones' Frau (wird) im Rollstuhl zum Wagen gebracht. Sie ist dünn und wunderschön. Jones ist dankbar und verwirrt. (...) Sind wirklich so viele Jahre vergangen? Ist das nicht seine Frau, seine Liebe, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat? Fängt nicht jetzt erst alles an? In Mexiko schlendert seine Tochter gleichgültig durch ein Juweliergeschäft. wo sie ein kleines silbernes Ei in die Hand nimmt. Es öffnet sich an einem Scharnier, und im Innern sind zwei Figuren, eine Braut und ein Bräutigam." Solche Gedankengänge klingen versöhnlich, manchmal tröstend. Charakteristischer für Williams' Geschichten ist jedoch die Feststellung eines TV-Briefkastenonkels, den sie den Antwortmann nennt: "Der Wein dieser Welt hat nur Übersättigung verursacht. (...) Abwesenheit, Sterilität, Trauer, Entbehrung und Trennung nehmen im ganzen Land überhand." Was auch immer die Autorin uns sagen will, ihr Grundton ist pessimistisch. Das gilt für fast alle Erzählungen in diesem Buch.

Joy Williams' Stories kann man nicht nebenher zur Unterhaltung lesen, und ich habe nicht zu allen Zugang gefunden. Wenn man sich aber darauf einlässt, wird man das Buch immer wieder einmal in die Hand nehmen.




von: Ralf Rothmann
von: Djian, Philippe
von: Richard David Precht
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.639
16.697
49
Rhönrand bei Fulda
Ich nicht.
Aber deine Rezension gefällt mir (mal wieder) richtig gut! Deine Beispiele sind sehr anschaulich gewählt, sie zeigen den Charakter des Buches.
Danke :helo . Ich lese übrigens, auch wenn ich inzwischen längst bei anderen Lektüren bin, immer wieder mal zwischendurch eine Geschichte. Für mich haben einige (nicht alle!) eine starke Anziehungskraft, auch wenn ich sie nicht ganz durchdringen kann.
 
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