Rezension (4/5*) zu Stella Maris von Cormac McCarthy

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Stella Maris von Cormac McCarthy
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Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander

Cormac McCarthy wird in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag feiern. Umso erstaunlicher ist es, dass er zum Jahresende 2022 gleich zwei Romane vorlegt, die sich inhaltlich ergänzen, aber dennoch völlig unterschiedlich aufgebaut sind und getrennt voneinander gelesen werden können. Ich las „Stella Maris“ und habe von „Der Passagier“ nur rudimentäre Kenntnisse.

„Stella Maris“ besteht ausschließlich aus sieben therapeutischen Gesprächsprotokollen. Da McCarthy konsequent auf Redezeichen verzichtet, ist aufmerksames Lesen von Beginn an erforderlich. Als Patientin hat sich die 20-jährige Alicia Western auf eigene Rechnung in die offene Abteilung der titelgebenden Heil- und Pflegeanstalt begeben. Wir schreiben das Jahr 1972. Alicias Gesprächspartner ist Dr. Cohen, ein einfühlsamer, zurückhaltender Arzt, der sich primär in der Rolle des Zuhörers und Fragenstellers sieht.

Alicia ist hochbegabt. Schule und Mathematik-Studium schloss sie weit vor der Zeit ab. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Vater, der maßgeblich am Bau der ersten Atombombe beteiligt war, was einen moralischen Schatten auf die Familie legt. Schnell etablierte sich Alicia beruflich an angesehenen Instituten, stand in Kontakt zu hochdotierten bekannten Persönlichkeiten dieser Branche. Eine weitere Passion Alicias galt der Musik, eine dahingehende professionelle Karriere schlug sie jedoch aus. Schon als Kind musste sie schwere Verluste verkraften. Sie wuchs bei der überforderten Großmutter auf. Einzige Stütze und Liebe war ihr älterer Bruder Bobby, der nun nach einem Unfall im Koma liegt und über den sie es lange ablehnt zu sprechen. Sein erwarteter bevorstehender Tod stürzt Alicia in eine Krise und lässt sie an Selbstmord denken. Einen Ausweg scheint sie in der Klinik zu suchen, die sie bereits zweimal zuvor besuchte.

Neben diesen biografischen Hintergründen erzählt Alicia aus ihrem anspruchsvollen Berufsleben. Sie beleuchtet dabei naturwissenschaftlich-mathematische Theorien, mit denen sie sich die Welt erklären will. Die junge Frau hadert mit den Grenzen ihrer Erkenntnis. Man bekommt einen Eindruck, wie quälend sich Hochbegabung auf ein Individuum auswirken kann: Alicias Gehirn scheint permanent unter Hochspannung zu stehen, es rattert, kombiniert, hinterfragt, sucht fortwährend Antworten und Lösungen. An Ruhe oder Schlaf ist dabei nicht zu denken. Zu allem Überfluss wird Alicia von grotesken Gestalten heimgesucht, deren Anführer ein penetranter Zwerg ist, und die nur sie selbst sehen kann. Sie wirkt gepeinigt, hat nur wenige Freunde, was angesichts ihrer komplizierten Persönlichkeit nicht verwunderlich scheint. Die Diagnose lautet auf paranoide Schizophrenie.

Der stilistische Aufbau des Romans ist außergewöhnlich und reizvoll. Man muss mit großer Aufmerksamkeit lesen. Die Themen wechseln häufig und sind intellektuell herausfordernd. Das gilt insbesondere für die Redeanteile Alicias. Sie lässt sich über mathematische und naturwissenschaftliche Theorien und Theoreme aus, zeigt Zusammenhänge zu anderen Bereichen der Wissenschaft auf, insbesondere zu Musik, Kunst und Philosophie. Ich gestehe, dass ich insbesondere die mathematischen Anteile nicht annähernd nachvollziehen konnte, indessen jedoch die philosophischen Exkurse mit großem Interesse verfolgte, in denen es um die großen Fragen des Lebens (und Sterbens) geht. Man findet eine Unmenge wunderschöner, nachdenkenswerter Aphorismen im Text, deren Deutungsmöglichkeiten vielfältig sind. Das Alterswerk McCarthys strahlt eine komplexe Symbolik aus. Man darf den wachen Geist des Autors bestaunen, der die finsteren Seiten einer Hochbegabung eindrucksvoll beleuchtet.

„Stella Maris“ ist keine einfache Lektüre, sie liefert aber großen Erkenntnisgewinn. Gewiss können mathematisch ambitioniertere Leser noch größeren Nutzen daraus ziehen. Der Roman ist keine Lektüre für den Mainstream. Ich möchte aber betonen, dass ich das komplette Buch gerne gelesen habe, für das man Konzentration braucht. Die Sprache ist präzise und klar, unterschiedliche Stimmungen werden während der Sitzungen deutlich. Dr. Cohen versucht zudem stets, seine Patientin in Bereiche umzuleiten, in denen er selbst sich auskennt und in denen er ihr eine Unterstützung anbieten kann. Man hat jedoch den Eindruck, dass der Therapeut seine Einflussmöglichkeiten von Beginn an äußerst gering einschätzt. Er verhält sich sehr menschlich und akzeptiert die Regeln und Grenzen, die Alicia für ihre Behandlung definiert. Insofern ist auch das Ende äußerst stimmig und liefert weiteren Stoff zum Nachdenken.

Kein Roman für Jedermann, aber eine Spezialität für alle Leser, die sich gerne intellektuell herausfordern.


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