Rezension (4/5*) zu Stella Maris von Cormac McCarthy

Irisblatt

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15. April 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Stella Maris von Cormac McCarthy
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Die Grenzen der Erkenntnis

„Der Passagier“ und „Stella Maris“ sind die beiden neuen Romane von Cormac McCarthy, die inhaltlich zusammengehören und im Abstand von nur wenigen Wochen veröffentlicht wurden.
Im mehr als 500 Seiten umfassenden „Der Passagier“ lesen wir Auszüge aus dem Leben von Bobby Western und erfahren dort auch von seiner besonderen Beziehung zu seiner jüngeren Schwester Alicia und deren psychischer Verfassung. Das wesentlich dünnere, aber formal ungewöhnlichere und inhaltlich intellektuellere Werk „Stella Maris“ legt den Fokus auf Bobbys Schwester Alicia.
1972: Bobby Western liegt nach einem Unfall im Koma. Seine jüngere Schwester Alicia weist sich selbst in die psychiatrische Klinik „Stella Maris“ ein. Es ist bereits ihr dritter Aufenthalt dort. Schon zu Beginn signalisiert sie, weder Medikamente noch eine Therapie zu wünschen.
In Stella Maris lesen wir ausschließlich die Dialoge, die zwischen dem Therapeuten Dr. Cohen und Alicia an sieben aufeinanderfolgenden Tagen stattfinden. Alicia, Doktorandin der Mathematik, die diese Wissenschaft aber nicht weiter betreiben will, hochbegabt, Synästhetikerin, spielt ausgezeichnet Violine und ist aufgrund einer akuten persönlichen Krise - ausgelöst durch den Unfall ihres Bruders - suizidgefährdet.
In ihrer Kindheit hat sie für kurze Zeit etwas gesehen, das als „Archetron“ bezeichnet wird und reichlich Stoff für mögliche Interpretationen bietet. Gesichert ist nur, dass ihr der Blick darauf große Angst einflößt(e). Seit ihrem 12. Lebensjahr, zeitgleich mit dem Einsetzen ihrer Menstruation, erhält sie zudem regelmäßig Besuch von einer Anzahl skurriler Gestalten, die zu real und eigenständig wirken, um als Halluzination zu gelten. Der sogenannte „Contergan-Zwerg“ und seine Begleiter*innen, die nur von Alicia wahrgenommen werden, sind allesamt mittelmäßige Artisten, gehen Alicia gehörig auf die Nerven, sind ihr aber grundsätzlich wohlgesonnen.

McCarthy verzichtet in Stella Maris konsequent auf Anführungszeichen, was gerade zu Beginn die Zuordnung der Sätze erschwert. In hohem Tempo, mit zahlreichen Gedankensprüngen, knapp und auf intellektuell herausforderndem Niveau sprechen die beiden über Mathematik, Musik, Physik, Philosophie, Kunst und Sprache. Zahlreiche Bezüge zu bedeutenden Wissenschaftler*innen und deren Theorien werden hergestellt und es wird auf historische Ereignisse verwiesen. Unmöglich das alles zu begreifen. Oftmals geht es um die Grenzen der Erkenntnis und unterschiedliche Wahrnehmungen.

Die Dialoge sind faszinierend, vom Wunsch des Therapeuten getragen, Alicia zu verstehen und regen zum Nachdenken an. Alicia hadert mit den Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit und hat sich daher auch von der Mathematik als Werkzeug, die Realität zu erkennen, verabschiedet. Denken ist abhängig von sprachlichen Mitteln, Bildern usw. - Mathematik und Sprache erweisen sich als der verzweifelte Versuch, die Realität zu erkennen und sind zugleich die unüberwindbare Hürde.

„Es ist kompliziert. Letztlich geht es um Glauben. Um das Wesen der Realität“ (S. 15).

Am interessantesten finde ich die Abschnitte, die sich mit der Realität und deren Wahrnehmung und die Bedeutung des Unbewussten im Erkenntnisprozess auseinandersetzen. Wissen, Medikamente, Drogen usw. verändern Wahrnehmung. Das gilt auch für besondere Fähigkeiten wie Synästhesie, ein absolutes Gehör und „Geisteskrankheiten“, nicht zu vergessen die kulturelle Prägung, die ebenfalls eine Rolle spielt. Wahrnehmung ist damit hochgradig individuell und trotzdem muss es eine existierende Welt geben, die unbeeinflusst von all den Wahrnehmungen besteht. Und was ist eigentlich die Intelligenz des Unbewussten? Wie kann es ohne Sprache Erkenntnisse erlangen, funktionieren und Entscheidungen treffen? „Die eigentliche Frage ist nicht, wie man Mathematik betreibt, sondern wie das Unbewusste das tut. Wie kommt es, dass Ihr Unbewusstes das nachweislich besser kann als Sie?“ (S. 124/125).
Neben Wahrnehmung, Realität, den unterschiedlichen Zugängen zu Erkenntnis, widmet sich McCarthy auch den Grenzen, dem Scheitern und der Ethik der Wissenschaften. Letztendlich geht es für mich aber auch um die Notwendigkeit eines emotionalen Ankers in der Welt, Geborgenheit und die Frage, was uns glücklich und zufrieden macht bzw. was Menschen verzweifeln lässt.

Dieser Dialog-Roman hat mich an die Grenzen meiner Erkenntnisfähigkeit gebracht. Er bietet eine Fülle an Deutungsmöglichkeiten. Mein Leseerlebnis kann ich am besten mit anstrengender Faszination bezeichnen. Der Roman ist aufgrund seiner Dichte eine Herausforderung. Versöhnlich der Gedanke, dass für ein zufriedenes Leben emotionale Zugehörigkeit wichtiger ist als kognitive Erkenntnis. Theoretisch erkennt das auch Alicia wenn sie sagt: „Ich glaube, was die meisten Leute glauben: Heilung kommt durch Zuwendung, nicht durch eine Theorie.“ (S. 65).

 
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