1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen denkt sie über Wahnsinn nach, über das menschliche Beharren auf einer gemeinsamen Welterfahrung, über ihre Kindheit, in der ihre Großmutter um sie fürchtete – oder sie fürchtete? Alicias Denken kreist um die Schnittstellen zwischen Physik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache. Und sie ringt mit ihren selbstgerufenen Geistern, grotesken Chimären, die nur sie sehen und hören kann. Die Protokolle der Gespräche mit ihrem Psychiater zeigen ein Genie, das an der Unüberwindbarkeit der Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird, weder im Reich des Spirituellen noch in einer unmöglichen Liebe Erlösung findet und unsere Vorstellungen von Gott, Wahrheit und Existenz radikal infrage stellt.Kaufen
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Nach knapp 15 Jahren des literarischen Schweigens nach seinem großen Erfolg „Die Straße“, veröffentlicht McCarthy im Abstand von zwei Monaten gleich zwei Romane: „Der Passagier“ und das hier rezensierte „Stella Maris“, die inhaltlich zusammen hängen. Den „Passagier“ habe ich (noch) nicht gelesen.
„Stella Maris“ ist in Form eines reinen Dialogs geschrieben, verzichtet auf Anführungszeichen und kann ohne äußerste Konzentration nicht verstanden werden. Vielleicht so oder so nicht verstanden werden, es sei denn, die Leser:innen haben Physik und/oder Mathematik auf höchstem Niveau studiert. Das ist bei mir nicht der Fall; im Gegenteil leide ich an einer ausgeprägten Mathe-Allergie. Aber, und das war überraschend, das Buch fesselte mich trotz klaffender Wissenslücken (Warnung: Googeln hilft nicht. Jedenfalls nicht viel.)
Der Roman spielt im Jahr 1972 und bildet ein Therapiegespräch ab – zwischen einer jungen Frau und ihrem Therapeuten Dr. Cohen. Alicia hat sich freiwillig in die psychiatrische Klinik Stella Maris eingeliefert; es ist ihr dritter Aufenthalt dort. Sie befindet sich in einer akuten Krise, weil ihr älterer Bruder Bobby nach einem Unfall im Koma liegt und gilt als suizidgefährdet.
Sehr subtil, nur durch ihre jeweilige Sprache, entwirft der Autor ein Bild der beiden Protagonisten. Alicia ist hochbegabt; eine Ausnahmeerscheinung seit ihrer Geburt. Dr. Cohen, der sie retten möchte, ist ein sehr sanfter, verständnisvoller Gesprächspartner, der, genau wie die Leserin, häufig an seine Verständnisgrenze stößt. Das tut, auf ihre Art, auch Alicia, nur befindet sich diese Grenze weit jenseits des Normalen. Für sie ist selbst die Mathematik kein widerspruchsfreier, eindeutig sinnhaltiger Raum. Sie MUSS verstehen; Nichtverstehen ist ein existenzielles Problem für sie. Einziger Ausweg aus dieser Misere scheint ihr der Suizid – der Tod als Aufhebung der Erkenntnisgrenze.
Aus Alicias Perspektive verhandelt McCormac eine Reihe naturwissenschaftlicher, philosophischer und psychologischer Fragen: Wie steht es um unsere evolutionsbedingt beschränkte Wahrnehmung? Was sind wir im Universum? Was ist Realität? (Sind Alicias Halluzinationen real?) Hilft Sprache beim Denken? Oder ist sie ein Parasit, der das Gehirn befallen und wichtige Bereiche zerstört hat? Wie denkt das sprachlose Unbewusste? Kann man von der Wissenschaft ethisches Verhalten erwarten?
Das alles liest sich ebenso anstrengend wie faszinierend. Man leidet mit der brillanten jungen Frau, die keinen Sinn und, außer ihrem Bruder, keine Gemeinschaft finden kann, die ihr ebenbürtig ist. Auch die Form des Romans gefällt mir, die schnörkellosen Dialoge ohne jedes Beiwerk. Jede Menge kluger Sätze, die man sich rausschreiben möchte.
Das intellektuelle Niveau des 90jährigen McCormac hat mich schwerst beeindruckt. Offensichtlich ist es ihm gleichgültig, ob seine Leser:innen ihm noch folgen können. Recht so: Wer seine grauen Zellen ein wenig quälen mag, ist bei diesem Roman richtig.
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