Rezension (4/5*) zu Simón: Roman von Miqui Otero

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Simón: Roman von Miqui Otero
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Der Mensch, der man sein will

Erzählt wird die Geschichte zweier „Cousin-Brüder“: Simón ist zu Beginn des Romans (1992) 8 Jahre alt, sein Cousin Rico 10 Jahre älter. Die beiden Familien sind eng verbunden und bewirtschaften zusammen das Lokal Baraja im Stadtteil Sant Antoni in Barcelona. Für Simón haben die Eltern wenig Zeit, er wächst weitgehend sich selbst überlassen in der Kneipe umgeben von eigenwilligen Gästen auf. Rico wird zum Vorbild, Simón genießt dessen märchenhafte Geschichten, in denen es um Helden, Glück und Reichtum geht. Die beiden leben diese fantastischen Abenteuer, und insbesondere der Ältere scheint sich in ihnen gerne zu verlieren. Jeden Sonntag bringt Rico zudem ein Buch vom Büchermarkt mit, das er mit kleinen Anmerkungen und Hinweisen versieht und das Simón mit Feuereifer verschlingt. Diese Bücher werden für Simón zu einem schmerzvollen Schatz, als Rico nach einer unvergleichlichen Nacht verschwindet. „Besser, man verschwindet nicht nach und nach aus dem Leben der anderen; wenn man schon verschwinden muss, dann am besten mit einer Verbeugung. Indem man demjenigen, den man am meisten liebt, ein letztes Leuchten schenkt.“ (S.33)

Diese erzwungene Trennung prägt Simón für sein ganzes weiteres Leben. In drei Büchern mit insgesamt 12 Stationen dürfen die Leser an Simóns Entwicklung über insgesamt 26 Jahre teilnehmen. Geschildert werden verschiedene Lebensabschnitte meist im Abstand von etwa zwei Jahren. Was dazwischen geschieht, wird eher stichwortartig umrissen und nur aus dem Zusammenhang heraus ersichtlich. Das macht es aus meiner Sicht zunächst nicht leicht, sich in den Roman einzufinden, der allerdings schon von Beginn an durch seinen geschliffenen, kreativen Schreibstil zu überzeugen weiß. Rico gerät nur vordergründig aus dem Fokus. Er hat tiefe Fußspuren auf den Seelen seines Cousin-Bruders sowie der ganzen Familie hinterlassen.

Die auktoriale Erzählstimme spricht den „Helden“ Simón auch direkt an. Überhaupt geht von Oteros Schreibstil eine erfrischende Dynamik aus. Er versteht es, sich in die innere und äußere Welt seiner Figuren einzufühlen. Immer wieder taucht der untergetauchte Rico im Denken und Handeln Simóns auf. Es sind Weisheiten, Zitate und Sprüche, durch die sich der „Künstler ohne Kunst“ ausgezeichnet hat. „Er (Simón) wusste es noch nicht, natürlich nicht, aber es würde nicht einfach werden. Mit diesen Idealen und Hoffnungen hatte sein Cousin-Bruder ihn zu jemandem gemacht, der mit erhobener Gabel durch eine Welt geht, in der nur Suppe serviert wird.“ (S. 49)

Zum Glück kann sich Simón von seinem Vorbild nach und nach emanzipieren. Er lernt das ebenso einsame Mädchen Estela aus seinem Bezirk kennen, das ihm zum beständigen Licht seines Lebens wird. Er findet einen Beruf, der ihn mit Leidenschaft erfüllt. Die Leser werden gekonnt durch das Auf und Ab dieses umtriebigen Lebens geführt, das ihn schließlich zu seinen Wurzeln zurückbringt. Während der gesamten Lektüre steht zwar Simón im Vordergrund. Dennoch bekommt in intensiven Szenen mit, dass der ältere Cousin nicht mit der Realität klarkommt und an den eigenen Sehnsüchten zu zerbrechen droht. Diese Diskrepanz wird unglaublich ansprechend herausgearbeitet, Simóns Gefühle werden sensibel dargelegt.

Die Erlebnisse des eigentlichen Helden lesen sich dabei recht unterschiedlich. Manches wirkt abenteuerlich, übertrieben, bizarr oder komödiantisch. Anderes emotional, traurig oder tragisch. Otero sprüht vor Ideenreichtum. Er stellt seine Heimatstadt dabei sehr realistisch dar, er verklärt sie nicht wie andere Autoren vor ihm. Dennoch ist die Liebe zur Stadt eine präsente Triebfeder, die wunderbare, plastische Bilder vor Augen führt. Der Autor erschafft ein buntes, teilweise skurriles und doch glaubwürdiges Figurenkabinett rund um seine Protagonisten. Die spanisch-gesellige Lebensart wird dabei atmosphärisch abgebildet. Die Sprache wirkt leicht und salopp, setzt aber auch tiefer gehende Gedanken in Gang. Dadurch wechselt die Stimmung in gleichem Maße. Der Satzbau ist nicht immer einfach und erfordert Konzentration, die zahlreichen fundierten literarischen Bezüge (meist aus Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts), Metaphern, Bonmots oder Wortspiele erfreuen jedes Bibliophilen-Herz: „Leute, die in einer Kneipe im Stehen trinken, warten entweder auf jemanden oder erwarten niemanden oder erwarten nichts oder erwarten nichts von niemandem.“ (S.280) oder „Die Flüssigkeit ihrer Freundschaft war noch da, aber sie war schal geworden. Keine Kohlensäure mehr.“ (S. 289)

In erster Linie ist „Simón“ ein Entwicklungsroman, in der sich der Protagonist auch tatsächlich über 26 Jahre hinweg zu dem Menschen entwickelt, der er sein will. Dazu muss er aus dem Schatten seines Mentors heraustreten. Auf diesem Weg lässt Otero die jeweilige Zeit und ihre Herausforderungen einfließen. Egal, ob Wirtschafts- und Finanzkrise, aktuelle politische Lage (Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens) oder Terroranschlag in Barcelona: Seine Figuren reflektieren die jeweiligen Probleme, sie üben Kritik an Ungleichverteilung, Rassismus, Kapitalismus, der Macht des Geldes. Existenzängste werden deutlich. Dazu kommen die Bedeutung von Herkunft, Familie, Heimat und Wurzeln. Alle Themen werden organisch mit der Handlung verwoben, ich habe keine unangenehme Didaktik erkennen können.

„Simón“ ist ein Roman, auf den man sich einlassen muss. Sein kreatives Schreibkonzept ist zunächst einmal fordernd. Die szenische, sprunghafte Erzählweise führt dazu, dass man als Leser eine Weile braucht, um sich einzufinden und in einen Lesefluss zu kommen (zumindest erging es mir so). Anschließend wird man dagegen reichlich belohnt mit einer intensiven Geschichte um zwei sich nahestehende Menschen in einem bewegten Umfeld und mit einer Ode an die Freundschaft.

Ich halte den Roman trotz der genannten Schwächen, die ich im Nachhinein auch wegen des gelungenen Endes als untergeordnet empfinde, für sehr lesenswert. Ich möchte ihn allen Menschen empfehlen, die sich mit spanischer Literatur auseinandersetzen wollen und facettenreiche Charaktere lieben.

Ein faszinierend anderes Lese-Erlebnis.