Rezension (4/5*) zu Sibir von Sabrina Janesch

Irisblatt

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15. April 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Sibir von Sabrina Janesch
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Kasachstan ist auch in Mühlheide

Während des zweiten Weltkriegs wird die Familie Ambacher - wie so viele deutschstämmige Familien - von der Roten Armee aus Galizien (Ukraine) nach Sibirien verschleppt. Schon der Weg dorthin ist gefährlich, Kälte und Hunger sind groß, nicht alle überleben. Wir lernen die endlose Weite der kasachischen Steppe, das Leben der Zivilgefangenen unter sowjetischer Aufsicht aus der Sicht des 10-jährigen Josef Ambacher kennen. Es geht ums Überleben; die deutsche Sprache darf nicht gesprochen werden, Misstrauen herrscht unter den aus unterschiedlichen Teilen der Sowjetunion Verschleppten. Die Sorge, selbst bei kleineren „Vergehen“ in den nahe gelegenen Gulag abtransportiert zu werden, ist allgegenwärtig. Josef sammelt russische, kasachische und deutsche Wörter, findet einen guten Freund unter den etwas abseits lebenden Kasachen und erhält Einblicke in eine fremde Kultur.
Janesch erzählt in ruhigem Ton, fängt durch ausdrucksstarke Szenen, die oft durch Kleinigkeiten berühren, die Atmosphäre dieses Orts im Nirgendwo ein und gewährt Einblicke in das dortige Leben.
Etwa zehn Jahre später dürfen die Ambachers und andere Zivilgefangenen nach Deutschland ausreisen. Sie gelten als „Rückkehrer“, ein absurder Begriff angesichts der Tatsache, dass viele der Verschleppten bereits viele Generationen zuvor Deutschland verlassen haben.
In Mühlheide am südlichen Rand der Lüneburger Heide entsteht in den 1950er Jahren eine Siedlung von „Sibiriendeutschen“, in den 1990ern kommen weitere, einst nach Sibirien verschleppte Familien nach Mühlheide, zunächst argwöhnisch beäugt von den Alteingesessenen.
Janesch erzählt zwei Zeitebenen parallel. Im Zentrum stehen Josef mit seinen Erlebnissen als Kind in Kasachstan und seine Tochter Leila als Kind in Mühlheide etwa fünfzig Jahre später. Die Zeitwechsel sind fließend, kündigen sich durch kleine Verbindungen, Ähnlichkeiten oder Assoziationen an. Da ist z.B. die Erinnerung an ein Unwetter oder an einen Gegenstand, durch die der Text äußerst geschmeidig in die andere Zeit gleitet. Diese Übergänge haben mir ausgesprochen gut gefallen.
Obwohl Leila ganz anders aufwächst, lassen sich Gemeinsamkeiten zur Kindheit ihres Vaters feststellen - dazu gehören Ausgrenzungserfahrungen, Fremdheitsgefühle, die Suche nach Heimat und Identität, aber auch die Themen Schuld, Mitschuld und Vergebung, die beide in unterschiedlichen Situationen beschäftigen. Eine weitere Parallele liegt in einer wunderbaren Freundschaft, die sowohl Josef als auch Leila erleben.
Sibir hat mich inhaltlich bereichert. Mir war überhaupt nicht klar, dass es sogenannte Zivilgefangene gab, die später wieder „zurück“ nach Deutschland geholt wurden. Auch die Verknüpfungen der beiden Kindheiten hat mir gut gefallen. Lediglich Leilas Teil hätte ich mir an einigen Stellen etwas straffer gewünscht. Sehr deutlich zeigen sich im Mühlheider Teil die Traumatisierungen des erwachsenen Josef in bestimmten Situationen. Auch Leila muss mit dem manchmal merkwürdigen Verhalten ihres Vaters und diesem Erbe umgehen. Wie bei allen Verschleppten sind die kasachische Erfahrung und dadurch entstandene Ängste ein Teil der Identität, die nicht einfach abgestreift werden kann.
Doch nun schwindet Josefs Erinnerung - er ist an Demenz erkrankt. Ein dritter Zeitsprung bildet die gelungene Rahmenhandlung des Romans. Gleich zu Beginn von „Sibir“ besucht die erwachsene Leila ihren Vater, versucht seine Geschichte, die Geschichte ihrer Familie zu erinnern und aufzuschreiben. Am Ende des Romans bleibt nur noch eine wichtige Sache zu erledigen. Der Schluss ist perfekt und hat mich stark berührt.

 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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49
Brandenburg
Die Russen verschleppen alles nach Sibirien .. in jüngster Vergangenheit unzählige ukrainische Familien; die Kinder werden oft aus den Familien genommen und - wenn sie Glück haben - von Russen adoptiert, wenn sie Pech haben landen sie in Kinderheimen, die eher Zuchthäusern gleichen. /ich hoffe sehr, diese kommen eines Tages zurück in ihre Heimat.
Was war der Grund, warum die Russlanddeutschen zurückkommen durften? oder mussten?
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
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Was war der Grund, warum die Russlanddeutschen zurückkommen durften? oder mussten?
Es gab in den 1950ern ein Abkommen zwischen Deutschland und Chruschtschow, in dem die Rückführung beschlossen wurde. In den 1990ern konnten viele "Russlanddeutschen" durch den Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland, wenn ich das richtig verstanden habe.