Rezension (4/5*) zu Shuggie Bain: Booker Preis 2020 von Douglas Stuart

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Shuggie Bain: Booker Preis 2020 von Douglas Stuart
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Eine Kindheit im Schatten...

Shuggie ist anders, zart, fantasievoll und feminin, und das ausgerechnet in der Tristesse und Armut einer Arbeiterfamilie im Glasgow der 80er-Jahre, mit einem Vater, der virile Potenz über alles stellt. Shuggies Herz gehört der Mutter, Agnes, die ihn versteht und der grauen Welt energisch ihre Schönheit entgegensetzt, Haltung mit makellosem Make-up, strahlend weißen Kunstzähnen und glamouröser Kleidung zeigt - und doch Trost immer mehr im Alkohol sucht. Sie zu retten ist Shuggies Mission, eine Aufgabe, die er mit absoluter Hingabe und unerschütterlicher Liebe Jahr um Jahr erfüllt, bis er schließlich daran scheitern muss. Ein großer Roman über das Elend der Armut und die Beharrlichkeit der Liebe, tieftraurig und zugleich von ergreifender Zärtlichkeit. (Klappentext)

Kinder lieben ihre Eltern. Immer. Egal was geschieht, das Gefühl ist unverbrüchlich. So auch bei Shuggie, dessen Lebensgeschichte der des Autors entliehen ist. Die Mutter ist Alkoholikerin.

Ich bin nun am Ende des Romans angelangt - und die Erleichterung ist grenzenlos. Endlich kann ich dieses Buch zuschlagen, das mich an den Rand des Erträglichen geführt hat. Erleichterung nicht deswegen, weil es schlecht geschrieben ist - sondern so gut. So eindringlich, so unerträglich, so voller emotionaler Wucht, obwohl es eine leise Erzählung ist. Wohl nicht zu Unrecht hat Douglas Stuart für sein Debüt den Booker Preis 2020 gewonnen...

Shuggie ist ein zarter Junge, der früh lernt, sich möglichst unsichtbar zu machen. Als jüngstes Kind hat er nicht die Möglichkeit, die perfiden Mechanismen des Alkohols, der Sucht zu erkennen - er ist dem Ganzen hilflos ausgeliefert. Er wächst im sozialen Brennpunkt auf, wo die Familie ohne Vater sehr isoliert lebt. Jeder in der Gegend ist sich selbst der Nächste, es gilt die Macht des Stärkeren, und jeder muss selbst zusehen, dass er sich dabei nicht verliert.

Doch Shuggie ist ein Junge, der lieber mit Puppen als mit Autos spielt, und der körperlicher Gewalt nichts entgegenzusetzen hat. Sein Credo ist Aushalten. Ob es nun das Mobbing der anderen Kinder ist, die Erniedrigung seiner Mutter in diversen Situationen, die Trunksucht, die bei allem guten Willen der Mutter stets als Sieger hervorgeht, der Hunger, weil kein Geld mehr da ist um Essen zu kaufen, weil die Bierdosen wichtiger sind, Gewalt, Ausbeutung, Verwahrlosung und letztlich auch Missbrauch - hier präsentiert sich ein brutales Potpourri an Abscheulichkeiten, die der/die Leser:in mit Shuggie auszuhalten lernen muss.

Stellenweise ist das kaum zu ertragen, auch deshalb, weil Shuggie fast an keiner Stelle wütend wird, sondern traurig und resigniert, immer wieder auch hoffnungsvoll, auch wenn andere ihm prophezeien, dass der Alkohol letztlich immer gewinnen wird. Die Sorge um seine Mutter, der Versuch sie zu unterstützen, zu zeigen, dass er sie liebt, die Verzweiflung, dass die Liebe nicht ausreicht, um sie von der Sucht zu heilen - der Rollenausch, weil er die Verantwortung übernimmt, die die Mutter eigentlich ihrem Kind gegenüber wahren sollte... Co-Abhängigkeit in ihrer reinsten Form.

Allein von Berufs wegen weiß ich um solche Umstände, in denen Shuggie groß geworden ist: sozialer Brennpunkt, alkoholsüchtige und oft auch psychisch erkrankte Eltern, Vernachlässigung der Kinder, das Recht des Stärkeren schon von klein auf usw. Aber die emotionale Seite, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, die Umkehrung der Rollen, die gnadenlose Einsamkeit, das Gefühl, für immer im System gefangen zu sein, das sich-notgedrungen-Arrangieren mit der Situation, existentielle Angst z.B. vor Hunger oder Obdachlosigkeit, weil das ganze Geld versoffen wird, die Demütigungen - diese ganze emotionale Wucht hat dieser leise, graue, brutale, niederschmetternde Roman spürbar vermittelt.

Aber Shuggie hat überlebt.

Weshalb dann nicht die volle Punktzahl? Nun, das ist (vermutlich) der Übersetzung geschuldet. Durch die Ansiedlung im sozialen Brennpunkt hat der Autor offenbar die Sprache mit Slang durchsetzt, was das Ganze sicher authentisch wirken lässt. Leider ist dies im Deutschen meiner Meinung nach weniger gut gelungen - zwischen Ruhrpott-Phrasen, Berliner Schnauze und norddeutschen Einsprengseln war alles dabei, was allenfalls ungewollt komisch war, mich aber über weite Strecken störte.

Alles in allem ein eindringlicher Roman über eine Kindheit im Schatten des Alkohols, über eine Gesellschaftsstudie und ein Zeitportrait - eine gelungene Mischung, die emotional sehr fordert und mir wohl noch lange im Gedächtnis haften bleiben wird...


© Parden

 

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