Rezension (4/5*) zu Shuggie Bain: Booker Preis 2020 von Douglas Stuart

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
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Buchinformationen und Rezensionen zu Shuggie Bain: Booker Preis 2020 von Douglas Stuart
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Eine verlorene Kindheit

Im Glasgow der 1980er-Jahre wächst der kleine Shuggie Bain in einer Arbeitersiedlung auf, in die er nicht hineinpasst. Er hasst Fußball, liebt das Tanzen - und seine Mutter Agnes, die dem Alkohol verfallen ist. Mit unbändigem Willen versucht er, sie zu retten und scheitert doch immer wieder. Erst nach und nach wird ihm klar, dass offenbar alle Mühe umsonst ist...

"Shuggie Bain" ist der Debütroman von Douglas Stuart, der dafür im Jahr 2020 den Bookerpreis gewann. Es ist ein in allen Belangen unbequemer, stark autobiografisch geprägter Roman. Die Leser:innen begleiten Shuggie auf dem Weg zum Erwachsenwerden und müssen dabei einiges erdulden. Doch wie mag es erst dem kleinen Jungen dabei ergehen? Von den Kindern seiner Siedlung als "Schwuchtel" angefeindet, von der trinkenden Mutter vernachlässigt, vom abwesenden Vater ignoriert - Shuggie ist nahezu auf sich allein gestellt, würde es nicht noch seinen älteren Bruder Leek geben, der ihm zumindest zeitweise eine Stütze ist.

Doch liegt die Hauptlast beim kleinen Bruder. Shuggie macht es sich zur Lebensaufgabe, die Mutter vor dem Alkohol und allem Bösen zu retten und verliert dabei vor allem sich selbst und seine Kindheit. Es ist eine einseitige und schmerzhafte Liebe. Während der Junge alles investiert, ist Agnes nur in äußerst seltenen Momenten ein Rückhalt für ihn. Ansonsten liebt sie vor allem sich und den Alkohol und manchmal noch Männer, die sich jedoch allesamt als gnadenlose Enttäuschung für Agnes und die Leser:innen entpuppen.

Mit zunehmender Romandauer verlässt sich Stuart immer stärker auf die Perspektive des titelgebenden kleinen Helden. Während gerade zu Beginn Agnes doch sehr im Mittelpunkt steht, verlagert sich dieses Gewicht fast unmerklich in Richtung des Kindes. "Shuggie Bain" macht es einem nicht leicht, gemocht zu werden. Die Erwachsenenfiguren sind grausam, gemein und nahezu unerträglich. Die Kinder sind mit wenigen Ausnahmen kaum besser. Einzig Shuggie selbst bringt den Roman immer wieder zum Leuchten. Und ein paar vereinzelte komische Momente.

Dennoch herrscht über weite Strecken eine große Trostlosigkeit vor. Die Ereignisse, die Shuggie erlebt, sind dabei so schrecklich und traurig, dass ich mich von ihrer Fülle zeitweise fast erschlagen fühlte und sich dadurch eine gewisse Abstumpfung bei mir entwickelte. Ich haderte mit mir selbst, konnte diese "ergreifende Zärtlichkeit", die der Klappentext verspricht, gar nicht entdecken. Auch der - mit Sicherheit schwer zu übersetzende - schottische Arbeiterslang trug dazu bei, dessen Lektüre gerade zu Beginn des Buches doch eine ganz schöne Herausforderung ist. Zwischenzeitlich sehnte ich sogar das Ende des Romans herbei.

Nur um nach der letzten Seite des Buches eine plötzliche Leere zu spüren und eine Traurigkeit, die mir sagte, dass der gemeinsame Weg mit Shuggie nun tatsächlich beendet ist. Einen großen Anteil daran hatten die letzten beiden Teile des Romans, die voller bewegender Momente sind und einen Shuggie noch stärker ins Herz schließen lassen. Daran erkannte ich, dass Douglas Stuart doch nicht so viel falsch gemacht haben kann. Denn so unbequem, trostlos und schrecklich "Shuggie Bain" zwischenzeitlich ist - es ist ein Roman, den man genauso wenig vergisst wie die Figur Shuggie selbst.

 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.240
49.146
49
Zwischenzeitlich sehnte ich sogar das Ende des Romans herbei.
Echt Jetzt? Wir hatten eine LR dazu und waren uns ziemlich einig. Die Trostlosigkeit kann man nicht weg diskutieren. Aber diese zärtliche Liebe war stellenweise sichtbar, würde aber zunehmend von der Sucht überlagert.
Große Schreibkunst!
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Echt Jetzt? Wir hatten eine LR dazu und waren uns ziemlich einig. Die Trostlosigkeit kann man nicht weg diskutieren. Aber diese zärtliche Liebe war stellenweise sichtbar, würde aber zunehmend von der Sucht überlagert.
Große Schreibkunst!
Ja, tatsächlich war ich zwischenzeitlich sehr genervt von Agnes - und dadurch auch vom Roman.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.371
21.150
49
Brandenburg
Den Tenor dieser Rezension kann ich gut nachvollziehen. Man muss genervt sein, denn Agnes war furchtbar. Allerdings hat sie von mir mildernde Umstände bekommen ;-).
Eine wundervolle Rezension, die dem Roman (fast) gerecht wird. Nein, echt jetzt. Die sehr gut ist. Shuggie und Agnes sind auf alle Fälle Figuren, die lange nachwirken.