Rezension (4/5*) zu SCHWEIG!: Thriller von Judith Merchant

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.618
16.618
49
Rhönrand bei Fulda
Buchinformationen und Rezensionen zu SCHWEIG!: Thriller von Judith Merchant
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"... denn ich habe eine Schwester"

"Ich bin kein freier Mensch, denn ich habe eine Schwester. Ich kann sie ignorieren. Dann habe ich immer noch eine Schwester, aber eine, die ich ignoriere. Ich kann den Kontakt abbrechen. Dann habe ich immer noch eine Schwester, aber eine zu der ich den Kontakt abgebrochen habe. (...) Ich bin kein freier Mensch, obwohl meine Schwester mir nichts Böses will. Aber sie ist meine Schwester. Und das bleibt sie für immer und ewig."

Mit einem kurzen Monolog, aus dem dieses Zitat stammt, beginnt Judith Merchants Buch. Die Schwestern Esther und Sue erzählen abwechselnd in Ich-Form und im Präsens, der Fokus wechselt jeweils recht schnell, manchmal schon nach zwei Seiten. Jedes kurze Kapitel ist mit dem Namen derjenigen Schwester, deren Stimme wir hören, übertitelt bis auf den Monolog am Anfang - der passt auf beide gleich gut. Ein geschickter erzählerischer Kniff, der schon zu Anfang deutlich macht, wie die beiden Schwestern auf Biegen und Brechen miteinander verbunden sind: verbunden, aber keineswegs einig.

Esther ist verheiratet mit Martin (einige wenige Kapitel berichten aus seiner Perspektive, aber er erzählt nicht selbst) und hat zwei Kinder, die kleine Ella und den Teenager Jonas. Die jüngere Schwester Sue ist geschieden, wohlhabend und nicht berufstätig, so dass sie es sich leisten kann, allein in einem großen Haus im Wald zu wohnen. Es ist Weihnachten, und Esther, die um das seelische Gleichgewicht der labilen Sue (die sie seit Kindertagen "Schnecke" nennt) besorgt ist, macht sich mit Weinflasche und Geschenkpäckchen auf den Weg zu ihr, will aber pünktlich zurück sein, um mit der Familie Weihnachten zu feiern. Dass so ziemlich alles anders kommen wird, kündigt Esther schon auf der vierten Seite an. (Ein kleiner erzählerischer "Bug": da Esther in Ich-Form und im Präsens spricht, ist diese Ankündigung eigentlich unlogisch.)

Judith Merchants "Thriller" kommt mit dem genannten, eng begrenzten Personenkreis und ganz wenigen Schauplätzen aus, und bis auf ebenso seltene Ausnahmen spielt sich das ganze Geschehen an einem einzigen Tag ab, nämlich bei jenem Besuch Esthers in Sues Haus. Die beiden sitzen in der Küche, versuchen ein Gespräch. Wie es verläuft, berichten und kommentieren die Schwestern abwechselnd und auf derart unterschiedliche Weise, dass die Leserin von Anfang an gezwungen ist, jede Information auf den Prüfstand zu stellen. Die beiden reden miteinander, beschimpfen und belügen einander, sprechen unangenehme Wahrheiten aus, jammern und klagen an. Wer von den beiden sagt die Wahrheit, wem wollen wir glauben? Vor allem: für wen ergreifen wir Partei? Eine "toxische Beziehung", erfahren wir im Klappentext. Jede der Schwestern hat ihre Verletzungen und Konflikte auszutragen, die zum Teil weit in die Vergangenheit zurückreichen. Endlich will Esther sich auf den Rückweg zu ihrer Familie machen - doch mittlerweile ist schon zu viel passiert zwischen den beiden, und, wie es ebenfalls im Klappentext heißt, "Taten werden begangen, die nie mehr rückgängig gemacht werden können".

Es ist nicht ganz leicht, ein Buch zu beurteilen, dessen Reiz zugleich auch seine (meiner Meinung nach) Schwäche ist. Die Autorin erzählt einfühlsam, bildhaft und sprachlich klar; es gibt nichts auszusetzen. Aber das Geschehen beschränkt sich, wie bereits gesagt, fast ausschließlich auf das Kreiseln der beiden Schwestern umeinander. Vor allem in der ersten Hälfte führt das zu einigen Längen. Der Gesprächsaustausch besteht, wie man beim Lesen schnell merkt, aus ständig wiederkehrenden Sprachmustern; die beiden kommen aus dem seit langer Zeit eingefahrenen Gleis nicht heraus. Vieles wiederholt sich mit geringfügigen Variationen. Besonders Esther wirkt mit ihrer Besorgtheit um die Schwester (die sie in fast jedem Satz mit diesem albernen Spitznamen anredet) insistierend und übergriffig. Natürlich hat das alles, wie wir erfahren, seine Gründe, es ist auch vieles ganz anders, als es zunächst aussieht. Trotzdem empfand ich das Buch, zumindest in der ersten Hälfte, als anstrengend. Dann will Esther die Heimfahrt antreten, und plötzlich überschlägt sich die Schilderung in äußerlicher "action", eine Höhepunkt jagt den nächsten, so dass es mir schon wieder zuviel wurde. Das ist aber eine rein subjektive Einschätzung. Wer eng begrenzte, kammerspielartige Plots mag, ist mit diesem Thriller bestimmt gut bedient. Zu viel Tiefe sollte man nicht erwarten und auch nicht, dass am Ende alles völlig widerspruchsfrei aufgeht. Aber Spannung und ungewöhnliche Wendungen gibt es reichlich. Ich vergebe dreieinhalb Sterne und runde wohlwollend nach vier auf.

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