Rezension Rezension (4/5*) zu Schwarzer Storch - weißer Schatten von Liselotte Pottetz.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Schwarzer Storch - weißer Schatten von Liselotte Pottetz
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Tschernobyl und die Folgen...

Ein Storchenpaar, von bösen Vorahnungen geplagt, zieht aus dem warmen Süden in die Heimat, nach Belarus – in das Land der Wälder, Flüsse, Seen und Sümpfe. 26.04.1986: Super-Gau! Im Atomkraftwerk „W. I. Lenin“ in Tschernobyl. Schlagartig verdunkelt sich die Welt, Mensch und Natur gleichermaßen betreffend.

Ich war anfangs doch etwas verwirrt, was das Storchenpaar mit der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 zu tun haben könnte. Tatsächlich tauchen die Störche nur zu Beginn des Buches auf und stellen eine Art Sinnbild dar, da Störche in Weißrussland wohl sehr verehrt werden.

Tschernobyl - vor etwa drei Jahren las ich hierzu die sehr beeindruckende Dokumentation der weißrussischen Schriftstellerin Swetlana Alesijewitsch, der 2015 „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde. Es blieb daher nicht aus, dass ich das vorliegende Buch zwangsläufig mit der Schilderung Alesijewitschs vergleichen würde.

Dieses Buch ähnelt dem der Literaturnobelpreisträgerin insofern, als hier die Geschichten verschiedener Menschen in Weißrussland erzählt werden, für die Tschernobyl ein tiefer Einschnitt in ihr bisheriges Leben bedeutete und bis heute bedeutet - sofern sie noch leben. Zwar kommen hier vorwiegend die sog. Liquiditoren zu Wort, also diejenigen, die die Aufgabe hatten, das betroffene Gebiet zu dekontaminieren und zu evakuieren, aber es wird auch deutlich, dass ein ganzes Volk über Jahrzehnte von der Katastrophe gezeichnet ist. Die sog. Todeszone wurde geräumt, aber die Lebensmittel, das Grundwasser, die Luft, die verstrahlten Menschen, die geplünderten und verkauften Habseligkeiten der Evakuierten - all das ist nach wie vor da.


"Die festgestellten Radionuklide dringen in den Organismus nicht nur mit der Luft ein, sondern auch über 'lebende Ketten' - Milch, Obst, Brot, Gemüse, Fleisch, welches verseucht ist."


Im Vergleich zu Swetlana Alesijewitsch, die unkommentiert die Erzählungen der interviewten Menschen abgedruckt hat, nüchtern oft in der Ausdrucksweise, kommt in den Schilderungen dieses Buchs die oft jahrelang aufgestaute Wut, Resignation und Sorge der Betroffenen unverhüllt zum Ausdruck. Dabei fehlen auch polemische Ausdrücke nicht wie 'Tschernobyler Mafia', 'sowjetische Schludrigkeit', 'Betrug der Obrigkeit'. Aber wenn man die Geschichten liest - wer will ihnen diese Wut und Bitterkeit vorhalten?


"...ihnen sagte man später, sie wären überhaupt nicht in der Zone gewesen. Das kann nicht sein, meinen Sie? Da irren Sie. Das behaupten die Beamten. Die Beamten der Staatsmacht bauen vor den Liquidatoren so viele Hindernisse und Barrieren auf, dass es fast unmöglich ist, den Aufenthalt in der Gefahrenzone nachzuweisen, geschweige denn, einen Nachweis der Teilnahme bei der Liquidierung der Katastrophe im AKW zu erhalten."


Tatsächlich wiegt die Verschleierungspolitik der russichen Regierung schwer - Lügen, Leugnen, Verharmlosen, und das jahrelang, hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen der Ersthelfer nach dem Super-Gau auch bis heute. Für die Betroffenen ein zusätzlicher Affront. Dazu Planlosigkeit, wilder Aktionismus und unsinnige Befehle mit Androhung strengster Strafen bei Zuwiderhandlung nach der Katastrophe - viele Gelder, wichtige Zeit und zahllose Menschenleben wurden da zusätzlich geopfert.

Doch: auch wenn der Maulkorb und die fehlende moralische, gesetztliche, finanzielle und vor allem medizinische Unterstützung der Liquiditoren nach ihrem Einsatz vielleicht zu einem großen Teil der Eigenheit des russischen Systems zuzuschreiben ist - meine Gedanken schweiften während der Lektüre doch einige Male ab. Wie sieht das eigentlich mit der Informationspolitik Japans aus nach der Reaktor-Katastrophe in Fukushima?

2020 ist Japan Ausrichter der Olympischen Spiele und der japanische Premierminister versichert: 'Die Lage ist unter Kontrolle!' Auch hier wird das wahre Ausmaß der Katastrophe verleugnet und verschwiegen, wie beispielsweise eine Dokumentation des ZDF vom 25.05.2018 nachweist. Und was ist mit den veralteten und störanfälligen AKWs in Belgien? Auch da gilt: alles unter Kontrolle, doch die belgische Regierung hält nun für alle Bürger des Landes Jodtabletten vor. Und ob bei einer etwaigen Evakuierung der Städte Aaachen, Düsseldorf und Köln im Falle eines Falles alles so viel planvoller ablaufen würde? Das bleibt nur zu hoffen...


"Obwohl das AKW völlig abgeschaltet wurde, der letzte Block am 15.12.2000, überwachen Ingenieure mit Technik aus den Siebzigern (keine Computer!) die nicht zerstörten Reaktorblöcke. Techniker üben in notdürftiger Schutzkleidung Kontrollgänge durch den Sarkophag aus - ein Höllenjob. (...) Der Sarkophag, der wie ein gigantischer Sargdeckel über die Reaktorruine gelegt wurde, befindet sich in einem äußerst kritischen Zustand. In der verrosteten Außenhülle klaffen große Löcher, druch die Stahlung entweicht und Regenwasser, welches das Grundwasser verseuchen könnte, eindringt..."


Doch nun genug der gedanklichen Exkurse und zurück zum Buch. Dieses verleiht einigen Betroffen stellvertretend für zigtausende Leidgenossen eine Stimme und oft erstmals eine Möglichkeit, auch ihre aufgestauten Emotionen loszuwerden. Auch wenn die Übersetzung ins Deutsche teilweise recht holprig geraten ist und einige 'Nebenthemen' die eigentliche Thematik etwas verwässern, ist dies in meinen Augen ein wichtiges Buch. Denn das Ereignis 'Tschernobyl' ist nicht allein das Thema eines betroffenen Volkes. Es geht uns alle an. Ob wir nun wollen oder nicht...


© Parden