Rezension (4/5*) zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey

Irisblatt

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15. April 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey
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Mehr als ein Künstlerroman

Die irische Autorin Christine Dwyer Hickey entführt uns in ihrem Roman „Schmales Land“ in die 1950er Jahre auf die Halbinsel Cape Cod (USA).
Gleich zu Beginn haben mich Schreibstil und Figurenzeichnung begeistert. Die Autorin erzählt ruhig, trotzdem sehr lebendig. Ganz beiläufig wechselt sie die Perspektive, so dass wir die Protagonist*innen immer auch aus einem anderen Blickwinkel wahrnehmen. Alle Figuren haben Stärken und Schwächen und wirken dadurch glaubwürdig.
Dwyer Hickey verwebt zwei Erzählstränge.
Der erste widmet sich einem deutschen Waisenjungen (Michael), der während des zweiten Weltkriegs seine Eltern verlor. Im Rahmen eines von Präsident Truman ins Leben gerufenen Programms kam er zunächst in ein Kinderheim und wurde schließlich von einem in New York lebenden Ehepaar adoptiert. Nun soll er ohne seine Pflegeeltern die Ferien im Sommerhaus einer reichen Familie auf Cape Cod verbringen. Die Gastgeberin engagiert sich für die Vermittlung von Kriegswaisen in Familien und kennt dadurch Michaels Pflegeeltern. Sie erhofft sich von Michaels Besuch einen gleichaltrigen Spielkameraden für ihren Enkel Richie, der ebenfalls die Sommerferien dort verbringt.
Im zweiten Erzählstrang geht es um die Ehe eines Künstlerehepaars, genau genommen um die Ehe von Edward und Josephine Hopper. Der Name Hopper taucht kein einziges Mal im Roman auf; allerdings finden sich zahlreiche Bezüge zu Hoppers Biographie und Werk. Wir lernen das Ehepaar in einer schwierigen Phase kennen. Edward Hopper befindet sich in einer Schaffenskrise, seine Frau leidet darunter als Künstlerin im Schatten ihres berühmten Mannes zu stehen. Auch sie hat lange nicht mehr gemalt. Während Edward Hopper Konflikten gerne aus dem Weg geht, hat Josephine Hopper einen impulsiven, aufbrausenden Charakter. In dieser Ehe fliegen die Fetzen, es bleibt nicht bei verbalen, sondern kommt auch zu körperlichen Attacken. Trotzdem scheinen die beiden tief verbunden und nicht ohne den jeweils anderen leben zu können.
Der in sich gekehrte Michael, der mit dem gleichaltrigen, wohlerzogenen, viel vor sich hinplappernden Richie wenig anfangen kann, ist häufig alleine unterwegs. Auf seinen Streifzügen trifft er Josephine Hopper, die er als „Mrs Aitch“ bezeichnet. Zwischen den beiden entsteht sofort ein Band der Zuneigung und so kommt es, dass Michael regelmäßig das Sommerhaus der Hoppers aufsucht, gegen Ende häufiger auch in Begleitung von Richie. Durch den Kontakt zu den Jungen erleben wir das Ehepaar Hopper noch einmal von einer ganz anderen Seite.
Schmales Land ist mehr als der Roman einer schwierigen Künstlerehe. Er ist auch ein Portrait der us-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft wohlsituierter Kreise. Viele Szenen zeigen die unterschwellige Präsenz noch nicht verarbeiteter Kriegserlebnisse, die Sehnsucht nach einem sorgenfreien Alltag während bereits einer neuer Krieg, der Korea Krieg, seine Schatten wirft. Pointierte Dialoge der zahlreichen Sommerhausgäste und Szenen einer Gartenparty gewähren facettenreiche Einblicke in die Gedankenwelt, aber auch die Wertvorstellungen und den Smalltalk dieser gesellschaftlichen Schicht.
Meine anfängliche Begeisterung wurde im Mittelteil aufgrund einiger Längen das erste Mal leicht getrübt. Mein größter Kritikpunkt betrifft aber die beiden Erzählstränge, die für mich nicht ausgewogen zum Zug kamen. Ab der Mitte legt die Autorin den Fokus auf das Ehedrama. Michael und auch Richie, deren Geschichten mich sehr berührt haben, bekamen vergleichsweise wenig Raum. Und wenn, dann dienten ihre Geschichten eher dazu, die Ehe und Persönlichkeit der Hoppers noch einmal in einem anderen Licht zu zeigen. Das hinterlässt bei mir einen Hauch von Unzufriedenheit, hätte ich doch gerne noch mehr von Michael erfahren.
Insgesamt ist der von Uda Strähling ins Deutsche übersetzte Roman aber ein schöner Roman mit unvergesslichen Szenen. Christine Dwyer Hickey schreibt mit großer Empathie für ihre Figuren, die alle auf ihre Art einsam sind.
"Schmales Land" hat mich neugierig auf das Werk der Autorin gemacht und ich hoffe, dass auch weitere Werke ins Deutsche übersetzt werden.