Rezension (4/5*) zu Schlangen im Garten von Stefanie vor Schulte

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Schlangen im Garten von Stefanie vor Schulte
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Ein Sommer der Trauer

Was bedeutet es für eine Familie, wenn die tragende Säule, die Mutter, vor ihrer Zeit stirbt? Wie kommt der Ehemann damit und in seiner neuen Rolle zurecht? Was löst die Trauer in den drei hinterlassenen Kindern (Steve ist 20, Linne 12 und Micha 11 Jahre alt) aus? Mit diesem ernsten Thema beschäftigt sich der neue Roman von Stefanie vor Schulte, die im vergangenen Jahr ihr Debüt „Junge mit schwarzem Hahn“ vorlegte, das mir mit seiner märchenhaft erzählten Heldengeschichte sehr gut gefallen hat.

Familie Mohn wirkt tief in ihren Grundfesten erschüttert, kein Stein steht innerlich noch auf dem anderen, nachdem Mutter Johanne verstorben ist. In der bohrenden Verzweiflung droht der familiäre Zusammenhalt verloren zu gehen. Jeder Einzelne hat seine eigene Last zu tragen, reagiert völlig unterschiedlich auf den Verlust. Es eint sie das Bestreben, die Erinnerung an Johanne wach zu halten, sie nicht zu vergessen. Die Handlung wird in einem absolut kalten, dystopisch anmutenden Umfeld angesiedelt. Die Behörden haben einen so genannten Trauerbegleiter auf die Familie angesetzt. Ginster hat jedoch nicht die Aufgabe zu helfen, sondern zu beobachten; er soll herausfinden, ob sich die Familie während ihrer Trauerzeit korrekt verhält oder ob ein Fall von ‚verschleppter Trauerarbeit‘ vorliegt. Denn „wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an.“ Auch die Nachbarn im Mehrfamilienhaus verhalten sich unglaublich argwöhnisch, neugierig und unempathisch.

Vater Adam kündigt seine Arbeitsstelle und ist mit der Situation heillos überfordert. Wäre nicht der älteste Sohn Steve wieder nach Hause gekommen, um sich um das nötigste Alltägliche zu kümmern, würde die Familie auch äußerlich zusammenbrechen. Doch auch ihm spürt man die Überforderung an, auch er braucht kleine Fluchten, um sich abzureagieren. Nachts fährt er halsbrecherisch mit seinem Longboard durch die Straßen der Stadt. Micha indessen ist ein ruhiger Junge, ein sensibler Beobachter, der kein Ventil für seinen Schmerz finden kann. Er imaginiert treffende Bilder für seine Familienangehörigen, sieht ihr Leid und leidet doch selbst. Linne reagiert mit unbändig aggressiver Wut, weshalb sie regelmäßig im Büro des Rektors vorstellig werden muss. „So anders ist das Kind, das seit dem Tod der Mutter weder eine Träne vergossen noch in den schulischen Leistungen nachgelassen hat.“ (S. 17)

Vor Schulte findet beeindruckende, facettenreiche Metaphern für den Trauerschmerz. „Sie frieren wie Eidechsen, und es mag sein, dass sie starr auf eine heilsame Wärme warten, die sie wieder lebendig werden lässt.“ (S.47) Darüber hinaus lässt sie den Blick weiter schweifen auf die Verlassenen, die Alten und Ausgestoßenen, auf Menschen, die sich an den Rändern unserer auf Kommerz ausgerichteten Gesellschaft befinden. Die Sozialkritik zieht sich deutlich sichtbar durch den Roman.

Die Autorin schreibt das alles in ihrer unnachahmlichen Sprache, in die man wunderbar abtauchen kann. (Ich empfehle ausdrücklich die Leseprobe.) Vor Schulte verbindet die komplexe Gefühlswelt ihrer Protagonisten mit fantastischen, märchenhaften, skurrilen und surrealen Elementen. Die Welt wird undeutlich und verschwimmt zuweilen. Die Autorin nutzt eine ausdrucks- und bildgewaltige Symbolik. Die titelgebenden Schlangen sind nur ein Teil davon. Wer einen Zugang zur Fantastik hat, gerne literarische Rätsel löst und sich von Interpretationen herausfordern lässt, wird ein anspruchsvolles, gewinnbringendes Lektüreerlebnis haben. Ich persönlich tue mich damit zugegebenermaßen etwas schwer. Zum Glück hatte ich eine kompetente Lesegruppe an meiner Seite, die half, die gekonnten und vielschichtigen textualen Bedeutungen zu verstehen.

Bei aller Tragik, die dieser Roman beschreibt, entwickeln sich zum Ende hin auch neue, hoffnungsvolle Perspektiven. Der heiße Sommer geht zu Ende. Flüchtige Begegnungen werden bedeutsam, Gemeinschaft hilft beim Heilungsprozess. Die Schlussszene ist berührend, in der kollektiv Erinnerungen rund um die Verstorbene geteilt werden. Ob es nun wahre Geschichten sind oder erfundene, spielt in diesem Roman keine Rolle. Von dieser Vorstellung, dass alles real und nachvollziehbar sein muss, sollte man sich beim Lesen von Stefanie vor Schultes Werken verabschieden. Nur dann kann man ihre originelle und innovative Prosa genießen.

Wenn mir auch wie erwähnt teilweise der Zugang gefehlt hat, möchte ich diesen außergewöhnlichen Roman trotzdem herzlich weiterempfehlen. Es ist sicher kein Roman für jedermann, aber in seiner Art einzigartig. Tod und Trauer sind fester Bestandteil des menschlichen Lebens. Sie gehören nicht ausgeklammert, sondern thematisiert. Niemand, der trauert, sollte sich verstecken müssen. Die Auseinandersetzung mit weiteren Bereichen anderer sozialer Schieflagen gliedert sich dabei harmonisch in diesen Kontext ein. Es bedarf großen schriftstellerischen Könnens, solche sensiblen Themen in derart einprägsamer, poetischer Sprache auszudrücken. Das gilt es zu wertzuschätzen.