Rezension Rezension (4/5*) zu Rote Kreuze von Sasha Filipenko.

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.381
21.192
49
Brandenburg
Stalinistische Säuberungen

Kurzmeinung: Geht ganz tief. In erfrischend moderner Sprache.

Sasha Filipenko schreibt in seinem Roman „Rote Kreuze“ darüber, wie sich die Organisation des Roten Kreuzes während des Zweiten Weltkrieges bemühte, der russischen Regierung Informationen über seine in ganz Europa verstreut in Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten zukommen zu lassen. Und wie die Reaktion von Väterchen Staat darauf hin aussah.

Dazu setzt der Autor zwei Protagonisten, eine weibliche und eine männliche Figur in Szene. Wobei die weibliche eindeutig die interessantere ist.

Tatjana, geboren 1910 in London, wohnt in Minsk und ist jetzt knapp über Neunzig, Sascha jedoch erst um die dreissig. Während Tatjana davon erzählt, mit welchen im Nachhinein gesehen überflüssigen Gedanken sie beschäftigt war als sie noch jung war und ein privilegiertes Leben führte, ist Sascha eingesponnen in das Leid seines eigenen Schicksals.

Erst so nach und nach öffnet sich der junge Mann dem Geschehen in Tatjanas Leben, das durch Hinterlist und Kriegstaktik und Staatswillkür praktisch vernichtet wurde, wie ihm im Laufe ihrer Erzählung bewusst wird. Langsam erkennt er, dass privates Leid zwar auch etwas wiegt, aber nichts ist im Vergleich zu dem staatlich und systematisch betriebenen Vernichtungsapparat russischer Willkür während der Stalinzeit.

DIE KRITIK:

Sasha Filipenko schreibt alles andere als verstaubt. Mit dem ersten Satz landet man mitten in der Story und zwar in der Jetztzeit. Das wirkt frisch und lebhaft.

Der Protagonist Sasha bezieht eine neue Wohnung in Minsk. 2007. Oder so. Was hat jungen Leuten denn die Stalinzeit noch zu sagen? Das fragt er sich. Das fragt sich natürlich auch die Leserschaft. Tempi passati.

Nicht ganz. Es geht uns noch eine ganze Menge an, was damals passiert ist. Mindestens solange, wie noch Zeitzeugen leben. Und es geht uns sogar noch über diese Zeitgrenze hinaus eine ganze Menge an, solange nämlihch, wie noch gewöhnliche Bürger, diese Zeiten im Nachhinein verherrlichen und wieder nach dem starken Mann rufen.

Eine ganze Menge geht es uns auch an, wenn man die Erinnerungskultur der eigentlich umsonst Gestorbenen zubetonieren möchte.

An diesem Punkt angelangt ist diese Erzählung für mich plötzlich nicht nur auf Russland beschränkt. Obwohl sie strikt dort angesiedelt ist. Denn auch in Berlin wollen Unbekehrbare das Holocaustdenkmal am liebsten schleifen und Holocaustleugner gibt es an allen Ecken. Der Ruf nach dem starken Mann hat einer fähigen Frau bereits die Kanzlerschaft gekostet. Die Dummheit der Menschen stirbt nicht aus. Insofern macht „Rote Kreuze“ mich auch für mein eigenes Land politisch betroffen.

Zurück zu Filipenko. Die Geschichte Tatjanas nimmt mit, sie, die in einem Straflager „umerzogen“ werden soll, obwohl sie eigentlich nichts getan hat. Ihr Mann ist Kriegsgefangener gewesen und Kriegsgefangene gelten als Verräter, denn man kämpft bis zum Tod und ergibt sich nie. Das ist die russische Maxime. Und Familienangehörige kommen in Sippenhaft.

Der Erzählstrang um Tatjana ist dem Autor wirklich gut gelungen. Man geht auf in ihrem Weg, ihrem Kampf ums Überleben, in ihrer Sprachlosigkeit. Sogar in der Sinnlosigkeit. Doch der dazugesetzte dramatische Effekt um Sascha geht ein wenig ins Leere. Zu aufgesetzt erscheint seine Geschichte. Wozu ist sie gut gewesen? Das Buch ist einfach zu kurz, um zwei sehr verschiedenartige dramatische Stränge so zu verflechten, dass sie eine organische Einheit gebildet hätten. Bei Saschas Story zuckt man ein bisschen die Achseln und ist froh, wenn die Kamera wieder auf Tatjana schwenkt.

Fazit: Ein rasant geschriebener kleiner Roman mit Sogwirkung, in heutiger Sprache, der schnell Tiefe erreicht und den Leser berührt. Die beiden Erzählstränge sind jedoch, auch wegen der Schmalheit des Büchleins wohl unmöglich, nicht eng genug miteinander verknüpft und der Saschateil wirkt ein deshalb wenig bemüht. Dieser zweite Erzählteil ist einfach "too much".

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Diogenes, 2020



 
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