Rezension Rezension (4/5*) zu Rote Kreuze von Sasha Filipenko.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Vergessen ist keine Option!

Die deutsche Literatur der vergangenen Jahrzehnte ist voller Bücher „Gegen das Vergessen“, die die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheitskapitel in der deutschen Geschichte sehr stark mitgeprägt haben. Das ist in anderen Ländern, die ebenfalls dunkle Kapitel aufzuweisen haben, nicht in gleichem Maße so. Das liegt an der Kultur der Aufarbeitung, die entweder von staatlicher Seite befördert oder behindert werden kann. In letztere Kategorie gehört sicherlich die Literatur Russlands und der Länder der ehemaligen Sowjetunion, mit der ich mich in einer Leserunde nun wieder einmal mit dem Roman „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko beschäftigen durfte. Filipenko fasst darin das Thema der Verfolgung der eigenen Bevölkerung in der stalinistischen Vergangenheit auf und berichtet von der Lebensgeschichte Tatjanas, die als alte Frau ihrem Nachbarn Sascha von ihrem Leben erzählt. Sie tut das zunächst auf etwas aufdringliche Art und Weise, denn Sascha, der gerade einen heftigen persönlichen Schicksalsschlag zu verarbeiten hat, ist in dieser Situation gerade gar nicht auf neue persönliche Kontakte und erst recht nicht auf Geschichten über das Leid anderer eingestellt. Aber so hartnäckig wie Tatjana ist, lässt sie nicht locker und wir erfahren mit Sascha gemeinsam im Roman, welche Einschläge ihr in ihrem Leben beschert waren. Wir beginnen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs (des Großen Vaterländischen Krieges, wie er in der Sowjetunion heißt), als sie frisch verheiratet ihren Mann in den Krieg ziehen lassen muss und mit ihrer Tochter allein zurückbleibt. Sie arbeitet als Übersetzerin im Innenministerium und hört viele Jahre nichts von ihrem Mann, nicht wissend ob er überhaupt noch lebt. Doch dann eines Tages kommt die gute Nachricht: er lebt in einem Kriegsgefangenenlager in Rumänien. Eine gute Nachricht???? Sollte man denken, aber für Tatjana selbst ist es eine extrem gefährliche Botschaft, denn sie weiß um die Vorgehensweise der Regierung, die Kriegsgefangene generell als Deserteure und Kollaborateure mit dem Feind behandelt. Und das bedeutet für sie nicht nur Inhaftierung und Strafe nach möglicher Rückkehr, sondern das bedeutet auch: Inhaftierung und Strafe (eventuell Todesstrafe) für die gesamte Familie. Also ist Tatjana mit ihrer Tochter in extremer Gefahr, sollte die Information über ihren Mann bei den staatlichen Stellen ankommen. Und so versucht sie es zu vertuschen und löscht den Namen ihres Mannes aus der gelieferten Liste. Der Leser erfährt von der Arbeit Tatjanas dann noch sehr viel über die Bemühungen der feindlichen Länder, humanitäre Austauschaktionen zwischen den kriegführenden Ländern hinzubekommen sowie von der absoluten Tatenlosigkeit und dem vollkommenen Schweigen der Sowjetunion angesichts dieser Bemühungen. Lange kann die Information über ihren Mann verborgen bleiben bzw. werden die Behörden ihr gegenüber nicht tätig, aber eines Tages dann wird sie doch verhaftet und von ihrer Tochter getrennt. Viele Jahre verbringt sie im Lager, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, etwas über den Verbleib von Mann und Tochter ausfindig zu machen. Nach vielen, vielen Jahren wird sie amnestiert und kann das Lager verlassen und verbringt auch den Rest ihres Lebens damit, ihre Suche fortzusetzen sowie ihre Verfehlung einem Fremden gegenüber, der statt ihres Mannes in der Liste der Gefangenen in Rumänien seinen Namen geben musste, irgendwie aufzuarbeiten. Sie betreibt viel Archiv- und Recherchearbeit, an der uns Filipenko intensiv mit teilhaben lässt, findet eine gleichgesinnte Freundin mit ähnlichem Schicksal und letztlich auch ihren Nachbarn Sascha, an den sie nach überwundenem Widerwillen ihre Leidenschaft, gegen das Vergessen anzuarbeiten, weitergeben kann.
Mein Fazit:
Das Buch war für mich ein echter Pageturner, denn eine Literatur „Gegen das Vergessen“ der Sowjetunion ist längst und in großem Maße überfällig und ausstehend. Natürlich gab es die Lagerliteratur von Solschinizyn und einige wenige andere Romane, aber von Aufarbeitung dieser Zeit kann weder politisch noch literarisch auch nur ansatzweise die Rede sein. In der Jelzin- und Gorbatschow-Zeit wurden die KGB-Archive für kurze Zeit geöffnet und von engagierten Bürgern sehr aktiv genutzt. Aber nur wenige Jahre später wurde dies alles bis zum heutigen Tag wieder rückgängig gemacht und die engagierten Bürger sahen sich wieder mit enormen staatlichen Widerständen und auch persönlichen Gefähdungen konfrontiert. Das Thema, dass heimkehrende Kriegsgefangene als Landesverräter behandelt und in neue Lager kamen und deren Familien gleich mit verfolgt wurden, ist in der Sowjetunion erst sehr spät überhaupt zum Thema gemacht worden.
Filipenko hat unter höchstwahrscheinlich eigenen persönlichen Gefährdungen mit diesem Buch eines der wenigen geschrieben, die wir der Liste „Gegen das Vergessen“ gegenüber diesem historischen Kapitel zuordnen können. Ein ungemein wichtiger Beitrag. Deshalb verzeihe ich ihm auch einige Konstruktionsschwächen in Handlung und Form des Romans und spende ihm großen Applaus mit guten und starken 4 Sternen.