Rezension Rezension (4/5*) zu Oxen. Das erste Opfer von Jens Henrik Jensen.

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Oxen. Das erste Opfer von Jens Henrik Jensen
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Stur wie ein Oxen

Der Ochse (= ein kastriertes Rind) wird in der Regel als Zug- und Arbeitstier eingesetzt. Daher dichtet man diesem Tier auch ein gewisses Maß an Gutmütigkeit und stoischer Ruhe an. Weitere Attribute eines Ochsen sind Einfältigkeit, Schwerfälligkeit und Starrsinn. Der Protagonist in Jens Henrik Jensens gleichnamiger Thriller-Trilogie heißt zwar "Oxen" (= Ochsen). Doch die einzige Eigenschaft, die ihn mit den Ochsen verbindet, ist der Starrsinn. Denn Niels Oxen kann stur sein wie ein Ochse. Und seinen Namen hat er sich schließlich nicht ausgesucht.
Ausser Jussi Adler-Olsen kannte ich bisher leider keine weiteren dänischen Thriller-Autoren. Doch mit der Trilogie "Oxen", über einen ehemaligen Elitesoldaten und Kriegshelden, der sich notgedrungen als Verbrechensbekämpfer rekrutieren lässt, erweist sich der Autor Jens Henrik Jensen als weiterer Garant für intelligente und hochspannende Thriller aus Dänemark. Tatsächlich wird Jensen mittlerweile als Shooting Star der skandinavischen Krimiszene gehandelt. Der dtv Verlag hat nun den ersten Teil der Trilogie vor Kurzem in Deutschland veröffentlicht. Teil 2 und 3 kommen in 2018 bzw. 2019 auf den Markt.

"Keine öffentliche Behörde, keine berufliche Organisation oder militärische Interessengruppe hatte eine Ahnung, wo sich Niels Oxen befand. Oder ob er sich überhaupt noch irgendwo befand." (S. 110)

Das kleine Dänemark als kriegerische Nation, das einen Kriegshelden hervorgebracht hat? Kaum zu glauben. Aber man darf nicht vergessen, dass Dänemark zu den Gründungsmitgliedern der Nato gehörte und von Beginn an die Nato-Streitkräfte bei Einsätzen in Krisengebieten unterstützt hat, so auch in Afghanistan oder auf dem Balkan.
Der Soldat Oxen war an diesen Einsätzen beteiligt. Dabei hat er sich durch mehrere (wage)mutige Aktionen hervorgetan und so manchem Kollegen das Leben gerettet. Für diese Einsätze ist er in seiner Heimat mehrfach geehrt worden, u. a. mit der höchsten Auszeichnung, die jemals in Dänemark vergeben wurde, dem Tapferkeitskreuz. Er ist der höchstdekorierte Soldat Dänemarks. Ein echter Held, wenn auch kein strahlender.
Denn die Kriegseinsätze haben ihren seelischen Tribut gefordert. Er leidet unter dem posttraumatischen Syndrom. Die schrecklichen Erlebnisse des Krieges lassen ihn nicht los und bestimmen sein Leben nach dem Krieg. Seine Ehe scheitert, er ist nicht mehr in der Lage, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Er entscheidet sich für die Anonymität der Obdachlosigkeit, anfangs in der Stadt, später in den dänischen Wälder, wo er ein Leben in völliger Abgeschiedenheit führt. Er meidet die Menschen. Sein einziger Freund und Begleiter ist sein Hund.

"'Dann haben wir es also mit einem unfassbar verdreckten, mittellosen Freak zu tun, der in Wirklichkeit so tapfer und heldenhaft ist, dass er sich sicher sein kann, in die dänische Geschichte einzugehen. ...'" (S. 74)

Hunde spielen übrigens eine große Rolle in diesem Roman. Denn der Thriller beginnt mit dem Mord an einem Hund. Es wird nicht bei dem einzigen toten Hund bleiben. Und dort, wo ein Hund stirbt, lässt das gewaltsame Ableben des Herrchens auch nicht lange auf sich warten. Die Herrchen sind Größen der dänischen Politik und Wirtschaft. Eine Verbindung zwischen den Männern lässt sich für die Behörden zunächst nicht erkennen.
Niels Oxen gerät per Zufall in die Ermittlungen. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Wald, den er sich als sein Domizil ausgesucht hat, gehört zum Anwesen eines der Mordopfer.
Aufgrund der Wichtigkeit und des Einflusses der Opfer schaltet sich der dänische Geheimdienst ein. Oxen steht unter Mordverdacht, doch außer Indizien gibt es keinerlei Hinweise auf seine Schuld. Die Ermittlungen kommen nur schleppend voran. Durch das große öffentliche Interesse an diesem Fall, greift der Geheimdienst zu einem unorthodoxen Mittel. Sie beauftragen Oxen, die Ermittlungen zu unterstützen. Sein Heldenruf und seine Fähigkeiten als Ex-Elitesoldat wiegen mehr als der Mordverdacht gegen ihn. Seine Auftraggeber lassen ihm freie Hand, auch wenn er illegale Mittel anwenden muss, um die Morduntersuchung voranzutreiben.
Oxen nimmt den Auftrag an. Denn die Mordfälle sind für ihn zu einer sehr persönlichen Angelegenheit geworden.

Der wortkarge und misstrauische Ex-Soldat bekommt eine Beamtin des Geheimdienstes an seine Seite: Margrethe, ein Ass auf dem Gebiet der Informationsbeschaffung, energisch, logisch, hochintelligent und mordsgefährlich - auch wenn sie nur auf einem Bein unterwegs ist. Das andere hat sie vor Jahren bei einem Polizeieinsatz verloren.
Oxen und Margrethe werden sich im Lauf der Ermittlungen zusammenraufen müssen. Seit Jahren hatte Oxen keinen Menschen an seiner Seite, musste seine Handlungen nicht rechtfertigen und war sein eigener Herr. Nun ist er mit einer Partnerin gestraft, die mindestens so eigensinnig ist wie er. Margrethe hat sich auch nicht um den Eigenbrötler gerissen. Die Ablehnung beruht also auf Gegenseitigkeit. Sie nutzt ihre Fähigkeiten, um Informationen über Oxen zu sammeln. So bekommt sie mit der Zeit ein Bild von ihrem "Partner", das jedoch viele Unklarheiten aufweist. Anfangs scheinen die beiden auch eher gegeneinander als miteinander zu arbeiten. Das Misstrauen ist einfach zu groß. Doch je tiefer sie sich in die Ermittlungen graben, um so mehr Gewissheit bekommen sie, dass hinter den Mordfällen eine große Verschwörung mit viel politischer Brisanz steckt, so dass sie gar nicht anders können als einander zu vertrauen.

"Und er wusste genau, was sie begafften. Sie versuchten, die vielen Orden zu durchschauen, die sie nicht sehen konnten. Nichts hätte ihm gleichgültiger sein können." (S. 102)

Dieser Thriller ist Spannung pur. Die Wendungen, die die Handlung nimmt, sind dabei nicht vorhersehbar und überraschen den Leser immer wieder aufs Neue.
Jens Henrik Jensen erzählt seinen Thriller in mehreren Handlungssträngen. Neben der Handlung um Oxen, seiner Vergangenheit und seiner Ermittlungen, trifft der Leser immer wieder auf den Mörder und seine Opfer. Der Mörder bleibt dabei anonym. Der Leser erhält dosierte Informationen, die ihn lange Zeit im Dunkeln tappen lassen. Erst mit der Zeit zeichnet sich ein Bild des Mörders und seiner Motive ab. Doch mit der Aufkärung der Morde ist es nicht getan. Denn der Leser wird an diesem Punkt feststellen, dass eine Verschwörung das Motiv für die Morde ist. Und tatsächlich wird man von da ab so etwas wie Verständnis und Mitgefühl für den Mörder empfinden. Denn in Jensens Thriller werden die Mörder am Ende zu Opfern und die Opfer werden zu Verbrechern.

Fazit:
Ein großartiger Auftakt einer Thriller-Trilogie um einen traumatisierten Ex-Elitesoldaten. Dabei erwartet den Leser eine gelungene Kombination aus einer Charakterstudie um diesen Soldaten und seinen Schwierigkeiten, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen sowie einem spannenden Thriller, der durch seine unvorhersehbaren Wendungen überzeugt.

© Renie