Rezension Rezension (4/5*) zu Nachruf auf den Mond: Roman von Nathan Filer.

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Nachruf auf den Mond: Roman von Nathan Filer
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traurig und heiter zugleich

Sätze, die einen sprachlos machen!
„Ich werde Ihnen erzählen, was passiert ist, denn bei der Gelegenheit kann ich Ihnen meinen Bruder vorstellen. Er heißt Simon. Ich glaube, Sie werden ihn mögen. Wirklich. In ein paar Seiten wird er tot sein. Danach war er nie mehr derselbe.“ (S. 11)

Worum geht es in diesem Buch?
Matthew Homes ist ein begnadeter Erzähler, und Patient der Psychiatrischen Klinik in Bristol. Um dort dem trostlosen Alltag zu entfliehen, schreibt er seine Geschichte auf – und die seines Bruders Simon, der im Alter von elf Jahren während des Campingurlaubs in Cornwall starb. Selbst nach zehn Jahren gibt sich Matthew immer noch die Schuld am Unfalltod seines Bruders. Doch eigentlich ist Simon für ihn gar nicht tot – und Matthew auch kein gewöhnlicher 19-Jähriger. Matthew leidet an Schizophrenie … (Quelle: Droemer Knaur)

Als Matthew 9 ist, kommt durch einen tragischen Unfall sein Bruder Simon ums Leben. Es scheint, als ob Matthew eine Rolle bei Simon’s Tod gespielt hat. Nur welche das ist, offenbart sich dem Leser erst mit der Zeit.

Matthew trägt die Schuld seit 10 Jahren mit sich herum. Er scheint daran psychisch zu zerbrechen. Das Ausmaß der psychischen Probleme, die Matthew hat, offenbart sich im Verlauf der Geschichte. Dabei lässt Matthew (Ich-Erzähler) immer wieder Andeutungen in seine Erzählung einfließen, die Schreckliches ahnen lassen.

„Jacob schaltete seine PlayStation 2 ein und legte Resident Evil ein, und ich sackte auf dem Teppich zusammen und starrte auf den Bildschirm und verlor mich in der Gewalt und dachte darüber nach, Arzt zu werden, Gutes zu tun, Jacobs Mum zu heilen, und auch meine. Und da war noch etwas, noch etwas, das in der Rauchwolke lauerte.“ (S. 93)

Hinzu kommt, dass er genetisch vorbelastet ist. In seiner Familie sind psychische Störungen nicht ungewöhnlich. Ein Großonkel hat sein Leben in der Psychiatrie verbracht, seine Mutter leidet unter Depressionen. Ob diese erst durch den Tod von Simon ausgelöst wurden, oder bereits vorher schon vorhanden waren, lässt sich nicht herausfinden.

Der Tod des Älteren der beiden Brüder bewirkt, dass die Mutter Matthew „in Watte packt“. Er wird aus der Schule genommen und von ihr zuhause unterrichtet. Matthew hat keine Freunde, seine einzige Bezugsperson ist seine Mutter, die seinen Tagesablauf bestimmt und ihn vor den Gefahren des Alltags beschützt. Erst durch den Zuspruch einer Ärztin, die erkennt, dass Matthew’s Entwicklung unter der übervorsichtigen Obhut seiner Mutter leidet, wird er wieder in der Schule angemeldet.

„‘Ich war nicht immer eine gute Mum, oder?‘
‚Hat die Ärztin das gesagt?‘
‚Ich mache mir solche Sorgen, Matthew, ständig.‘“ (S. 65)

Im weiteren Verlauf seiner Kindheit und Jugend wird Matthew’s psychische Erkrankung immer schlimmer. Er hat Halluzinationen, sieht überall seinen verstorbenen Bruder Simon und kommuniziert auch mit ihm. Der Versuch, sich von dem Einfluss seiner Mutter zu lösen, indem er mit 17 in eine eigene Wohnung zieht, scheitert. Allein auf sich gestellt, ist er nicht mehr in der Lage, gegen seine psychischen Störungen anzukämpfen. Er ist eine Gefahr für sich und wird in die Psychiatrie eingewiesen, wo er therapiert wird.

Dieses Buch ist keine leichte Lesekost. Trotz des flotten und lockeren Sprachstils des Ich-Erzähler’s klingt immer wieder die seelische Belastung von Matthew durch. Er registriert seine Probleme und versucht sie zu analysieren. Zwischenzeitlich spürt man Matthew‘s ungläubiges Staunen über das, was in seinem Kopf passiert. Seinem Erzählstil merkt man das Fortschreiten der Krankheit an. Das ist unheimlich, da man sich als gesunder Mensch kaum vorstellen kann, wie ein Alltag mit Schizophrenie verläuft.

„Wir sind egoistisch, meine Krankheit und ich. Wir denken nur an uns. Wir biegen uns die Wirklichkeit zurecht, um Botschaften zu empfangen, geflüsterte Geheimnisse, die nur für uns bestimmt sind.“ (S. 146)

Und trotzdem hat dieser Roman auch seine heiteren Momente. Die treten meistens dann auf, wenn Matthew über den Klinikalltag berichtet. Wahrscheinlich braucht man ein gewisses Maß an Humor, um mit derartig belastenden Situationen fertig zu werden.

Matthew’s Geschichte hat mich nachdenklich gemacht. Sein Schicksal und das seiner Familie ist einfach nur schrecklich. Aber ich habe mich immer wieder gefragt, ob die Eltern dem Ausbruch von Matthew’s Krankheit nicht hätten entgegen wirken können. Nach dem Tod von Simon gab es kein Miteinander, um die Trauer zu bewältigen. Die Mutter versank in Depressionen, der Vater spielt in diesem Roman nur eine untergeordnete Rolle. Man erfährt nicht viel über ihn. Und Matthew? Der 9-Jährige steht mit seiner Trauer und Schuld allein da. Keiner, der ihm hilft, den Tod seines Bruders zu verarbeiten. Der seelische Druck wird im Laufe der Jahre immer größer und sucht sich sein Ventil im Ausbruch von Matthew’s Krankheit.

„Jeden Morgen nach dem Aufwachen, wenn ich sekundenlang glaubte, alles wäre normal, alles wäre in Ordnung, bevor ich wie durch einen Tritt in den Magen daran erinnert wurde, dass nichts in Ordnung war. Da waren die tuschelnden Erwachsenen, die verstummten, sobald ich das Zimmer betrat. Alle wussten es, alle dachten es, alle waren verzweifelt bemüht, nicht zu denken, dass es meine Schuld war. Dass er noch am Leben wäre, wenn ich nicht wäre.“ (S. 266 f.)

Fazit:
Ein lesenswertes Buch, das mich den seelischen Druck hat spüren lassen, mit dem Matthew sein bisheriges Leben verbracht hat. Es machte mich betroffen und nachdenklich. Gleichzeitig gewährt es einen Einblick in die Seele eines psychisch Kranken und trägt somit dazu, die Distanz und Voreingenommenheit zu überwinden, die oft bei seelisch „Gesunden“ gegenüber seelisch „Kranken“ vorherrscht.

„Ich bin psychisch krank, kein Idiot.“ (S. 229)

© Renie