Rezension (4/5*) zu Nachleben: Roman. Nobelpreis für Literatur 2021 von Abdulrazak Gurnah

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Nachleben: Roman. Nobelpreis für Literatur 2021 von Abdulrazak Gurnah
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Dunkle Kapitel deutscher Kolonialgeschichte...

Der Romans spielt überwiegend in einer nicht namentlich benannten Kleinstadt an der Küste im damaligen Deutsch-Ostafrika. Die Handlung setzt kurz nach der Jahrhundertwende ein, zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft, die von zahlreichen Aufständen und deren gewaltsamer Niederschlagung durch das Kaiserreich geprägt waren, führt durch den Ersten Weltkrieg, der stellvertretend auch auf afrikanischem Boden ausgefochten wurde, und beleuchtet schließlich die Zeit der britischen Kolonialherrschaft bis kurz nach der Unabhängigkeit des heutigen Tansania.

Eine Familiengeschichte wird mit der unruhigen und blutigen Geschichte des Landes unter arabischer, deutscher und britischer Fremdherrschaft verwoben, wobei verschiedene Charaktere wechselnd in den Fokus gestellt werden, die im Verlauf an Kontur gewinnen und vielschichtig angelegt sind. Abdulrazak Gurnah präsentiert hier eine machtlose Region, deren Bewohner keinerlei Kontrolle über ihr eigenes Schicksal besitzen – und er erzählt dies ausschließlich aus dem Blickwinkel der unterworfenen einheimischen Afrikaner.

Dabei wird jedoch auch deutlich, dass es DIE afrikanische Identität nicht gab. Anders wäre wohl auch kaum zu erklären, dass viele junge Ostafrikaner, wie z.B. die Hauptcharaktere Ilyas und Hamza, sich seinerzeit als sogenannte "Askari" anwerben ließen, afrikanische Hilfssoldaten für die Schutztruppe der Deutschen - und damit als Kanonenfutter für den Krieg zwischen den verfeindeten Kolonialmächten. Junge Männer wie Ilyas und Hamza kämpften also für eine fremde Macht in einem Krieg, der sie überhaupt nichts anging. Dieser Aspekt des Romans verblüffte mich fast am meisten.


"Die Askari hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischem Eifer für eine Sache kämpften, deren Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte." (S. 124 f.)


Gurnah berichtet stellenweise fast spröde-sachlich von den Ereignissen, keineswegs anklagend und mit einer erstaunlichen Ambivalenz hinsichtlich der Kolonialherren. Diese erweisen sich nicht nur als brutale Unterdrücker, sondern stehen z.B. auch für Bildung und Kultur. So wrd Ilyas in jungen Jahren von einem Deutschen zur Schule geschickt, und Hamza kommt während seines Dienstes als Askari mit Werken von Schiller in Berürhung.

Den eher einfachen, teilweise fast sachlichen Schreibstil, die stellenweise bloße Erwähnung geschichtlicher Fakten und Daten ohne konkreten Bezug zur Geschichte und zu den Charakteren fand ich zwar zunächst befremdlich, letztlich aber doch auch hilfreich, um das Geschehen in der Erzählung in einen Gesamtkontext einordnen zu können und die geschilderten Gräuel beim Lesen nicht zu emotional zu erleben.

Neben der eigentlichen Darstellung des Schicksals der verschiedenen Figuren bietet der Roman noch zahlreiche Subtexte, von denen ich nicht behaupten werde, sie alle entdeckt und verstanden zu haben, einige aber eben doch. So z.B. die Tatsache, dass das Geschehen in der Vergangenheit immer auch Konsequenzen für die Gegenwart nach sich zieht, teilweise über Generationen hinweg. Der Kolonialismus sorgte für bleibende Narben. Gerade das Ende, zu dem der Literaturnobelpreisträger durch eine wahre Begebenheit inspiriert wurde, zeigt das schwere Erbe dieser existenziellen Erschütterung durch die deutsche Kolonialgeschichte.

Die Chronik eines Weltgeschehens, die durchaus auch etwas Allgemeingültiges hat (Entwurzlung, Identitätssuche). Ein beeindruckender Roman, verständlich geschrieben ohne literarische Kapriolen, doch deswegen nicht weniger eindringlich. Ich hätte mir von Seiten des Verlages noch zusätzliche Informationen gewünscht (Glossar, Landkarte), aber auch so hinterlässt der Roman bei mir einen bleibenden Eindruck.

Auch ein Buch gegen das Vergessen - ein kleiner Stein auf dem Weg zur Aufarbeitung der dunklen Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte...


© Parden