Rezension Rezension (4/5*) zu Mittagsstunde: Roman von Dörte Hansen.

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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Buchinformationen und Rezensionen zu Mittagsstunde: Roman von Dörte Hansen
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Comes a Time

Marret Feddersen sieht in allem Möglichen Zeichen des nahenden Untergangs Schon als Kind war sie seltsam, „verdreiht“. Auf ihren Runden durch das Dorf Brinkebüll erkennt sie jeder am Geräusch ihrer Klapperlatschen. „Marret Ünnergang“ wird sie nur mehr genannt. Als viel später ihr Sohn Ingwer nach jahrelanger Abwesenheit nach Brinkebüll zurückkehrt, zieht er Bilanz. Sein Leben, das Dorf, alles hat sich gewandelt. So nimmt auch er eine Auszeit, um seinen greisen Großeltern Sönke und Ella beizustehen.
Mittagsstunde, High Noon in Brinkebüll, nur dass sich hier nicht Gut und Böse im ewigen Kampf gegenüberstehen, sondern alt gegen neu, Tradition gegen Fortschritt.
Es sind viele berührende Szenen, die Dörte Hansen aus dem Dorfleben beschreibt. Die Handlung verläuft in zwei Zeitebenen. Zum einen befinden wir uns in den Nachkriegsjahren bis in die 60er, Jahre des Aufbaus, der Beginn einer neuen Zeit und zum anderen in der Gegenwart, i n der Brinkebüll fast wie eine Geisterstadt anmutet. Schule, Laden, die alten Höfe gibt es nicht mehr. Gerade noch Sönkes Wirtshaus besteht noch. Die Zeit der Feste im Brinkebüller Saal sind vorbei, kein Frühschoppen, kein Umtrunk bis zum Morgen. Es ist eine verkehrte Welt. Städter ziehen nach Brinkebüll, um die Ursprünglichkeit zu suchen, die die Landwirte im Zuge der Modernisierung abgeschafft haben. Es ist nicht nur das Dorfsterben, dass die Autorin beschreibt. Sie greift sehr viele Themen auf, sehr breit angelegt: Pflege der Familienangehörigen im Alter, Demenz, Inklusion, unbewältigte Kriegstraumata, die Bildungsschere zwischen Stadt und Land und vor allem die Einsamkeit und Isolation in unklaren oder ungeliebten Beziehungen. Paare, die jahrzehntelang mehr nebeneinander statt miteinander leben, die nicht miteinander reden, sondern übereinander, das macht die Geschichte über das Dorfleben hinaus universell. Es ist eine nostalgische Erzählung, durchsetzt mit wehmütigem Humor. Skurrile Figuren damals wie heute geben dem Buch eine zutiefst menschliche Seite. Aber Hansen erzählt auch von den Chancen eines Neuanfangs, einer Weiterentwicklung, der Suche und nach dem Platz im Leben.