Rezension (4/5*) zu Memory: Roman von Alexander Häusser

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.473
50.034
49
Buchinformationen und Rezensionen zu Memory: Roman von Alexander Häusser
Kaufen >
Der Schlüssel zur Erinnerung

Der 35-jährige in Hamburg lebende Ich-Erzähler befindet sich in einer Lebenskrise. Er ist verheiratet, arbeitet in einem Musikgeschäft und ist organisch gesund. Aber trotzdem fühlt er sich alt und elend, leidet an chronischer Müdigkeit und akuter Antriebslosigkeit. Das Verständnis seiner Ehefrau hält sich in Grenzen. Deshalb begibt sich der Betroffene in ärztliche Therapie, wo er gezwungen wird, sich den verdrängten Verletzungen seiner Vergangenheit zu stellen.

Auf zwei wechselnden Erzählebenen baut sich der Roman auf. Schnell wird deutlich, dass der frühe Tod des Vaters auf die weitere Entwicklung des Sohnes großen Einfluss hatte. Während der Vater um sein Leben rang, schaute die ganze Welt bei der Mondlandung zu, auch der 11-Jährige war fasziniert von den Bildern aus dem All. Die familiären Ereignisse wirken unbewusst in sein ganzes weiteres Leben hinein und werden den „großen Schritt für die Menschheit“ in seiner Erinnerung stets relativieren.

Die Familie lebte damals nahe der schwäbischen Alb, es gibt zwei Geschwister. Schwester Anne steht dem Protagonisten besonders nah, Bruder Manfred ist bereits weitgehend selbständig. Es werden dramatische Ereignisse in Gang gesetzt, deren Ursache sich dem Kind zunächst nicht komplett erschließen. In der Rückschau ergeben sie jedoch für den erwachsenen Protagonisten (und den Leser) einen Sinn. Wie beim Memoryspiel fügt sich eins zum anderen. Das macht die Spurensuche ungemein interessant. Im Gegensatz zum phlegmatischen Ich-Erzähler ist einem sein 11-jähiges Alter Ego sofort sympathisch. Man empfindet mit dem Jungen mit, dessen Leben aus den Fugen und zwischen zwei Onkel gerät, dem seine Schwester abhanden kommt und der sich in der Schule laufend Geschichten ausdenkt, mit denen er andere unterhält, sich aber auch um Kopf und Kragen redet. Ein sympathischer Kerl – Gemeinsamkeiten mit dem Autor sind wahrscheinlich völlig beabsichtigt.

Das Buch wird von einer latenten Melancholie durchzogen. Die Trauer des Kindes wird glaubwürdig und sehr menschlich transportiert. Ähnlich leidet auch die 15-jährige Anne, sie magert ab, verliert zunächst ihre Stimme, bald aber noch viel mehr. Manfred mutiert zum Mann im Haus, eine Rolle, für die er viel zu jung ist. Die Mutter bleibt blass, passend zur damaligen Frauenrolle lässt sie sich von Männern dominieren.

Und dann taucht auch noch ein Foto im Nachlass des Vaters auf, auf dem eine blonde Norwegerin zu sehen ist. Die ohnehin lebhafte Fantasie des Erzählers wird beflügelt... Wir erleben eine Familientragödie, aber auch viele schöne Momente aus dem Leben des Erzählers: der erste Urlaub auf Texel, die Faszination des Meeres, das sexuelle Erwachen, die erste Liebe.

Sehr organisch wird die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden. Es ergeben sich immer mehr Parallelen und Zusammenhänge. Der erwachsene Erzähler muss zurück an den Ort seiner Wurzeln, denn: „Es hängt mit den Orten zusammen, die Zeit ging mit den Orten verloren und lässt sich durch die Orte wiederfinden.“

Der Roman ist eine intensive psychologische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die der Ich-Erzähler bereisen muss, um seine aktuelle Krise zu meistern und sich selbst zu verstehen. Man wird schnell in die ruhige Erzählung eingesogen. Immer wieder finden sich schöne Formulierungen. Der Autor schildert bildreich, sensibel und empathisch, seine Figuren wirken absolut authentisch. Er ist ein grandioser Chronist menschlicher Empfindungen.

Alexander Häusser hat mich bereits mit seinem 2019 erschienenen Roman „Noch alle Zeit“ begeistert, in dem er sich fiktional auf Spurensuche nach (s)einem einst in Norwegen als Soldat stationierten Vater begibt. Die einfühlsame Annäherung an die zwei einsamen Protagonisten sowie die poetische Sprache haben den Roman in meine All-time-Favoritenliste aufsteigen lassen. Wie der Autor in seinem Nachwort schreibt, ist aus dem jungen Ich-Erzähler in „Memory“ der über sechzigjährige Edvard in „Noch alle Zeit“ geworden, dem ich so gerne gefolgt bin.

Ich möchte beide Romane allen Lesern ans Herz legen, die sich gerne mit menschlichen und familiären Schicksalen auseinander setzen. Die Vergangenheit hat immer auch Auswirkungen auf die Gegenwart. Man muss sich ihr stellen, Verflechtungen verstehen und das eigene Leben in die Hand nehmen. Das gilt nicht nur für Romanfiguren.

Die überarbeitete Neuauflage des Debüts „Memory“ von Alexander Häusser ist im Mai 2022 im Pendragon Verlag als attraktive Klappenbroschur erschienen.

Unbedingt lesen!

von: Sarah Winman
von: Carl Nixon
von: John von Düffel
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.473
50.034
49
Deine Rezension macht , wie so oft, Lust auf den Roman. Außerdem ist mir das letzte Buch des Autors in allerbester Erinnerun.
Es liegen ja rund 15 Jahre zwischen Debüt und "Noch alle Zeit", dennoch verstand der Autor schon damals zu schreiben. Allerdings hat ihn die Zeit reifen lassen. Ganz so poetisch wie im gemeinsam gelesenen Roman war er damals noch nicht. Aber lesenswert ist seine Spurensuche allemal!
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.691
22.086
49
Brandenburg
Wie immer findest du sehr lobende Worte - für einen äußerst fade klingenden Roman ;-). Wie man nur immer wieder ein Drama aus ganz normalem Leben machen kann, ist mir unbegreiflich.
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.649
12.943
49
47
Aber lesenswert ist seine Spurensuche allemal!
Das kann ich nur unterstreichen. Ich konnte das Buch nur schwer aus der Hand legen. Würde ich in einer Rezension nicht schreiben, aber hier kann ich es ja ruhig. Es hat mich bereichert und berührt, und ich habe erstaunlich viele Parallelen im Leben des Ich-Erzählers zu meinem eigenen gefunden.

Noch einmal nachträglich lieben Dank für das Sichtbarmachen und das Geschenk. Eine tolle Lektüre.
 

Beliebteste Beiträge in diesem Forum