Rezension Rezension (4/5*) zu Meine geniale Freundin von Elena Ferrante.

Bibliomarie

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10. September 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Meine geniale Freundin von Elena Ferrante
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Eine besondere Freundschaft

Raffaela, oder Lila wie Elena ihre Freundin aus frühen Kindertagen sie nennt, ist spurlos verschwunden. Wie ausgelöscht scheint ihr Leben. Elena macht sich noch nicht viele Gedanken, sie kennt Lila und ihre spontanen Entscheidungen und weiß um ihre Eigenwilligkeit. Sie hält die Sorge von Lilas nichtsnutzigem Sohn eher überzogen. Aber Lila hat wohl alle Spuren ihres Lebens getilgt, keine Kleidung, keine Briefe, keine Erinnerungsstücke sind zurückgeblieben. Aber Lila war immer anders !
In Gedanken geht Elena zurück ins Neapel der 50iger Jahre und lässt den Beginn der Freundschaft zwischen den beiden Mädchen Revue passieren. Lila war ein starkes, mutiges Mädchen, ja sie war sogar manchmal richtig grausam, Elena unterwirft sich willig den diversen Mutproben und Lila wird ihre wichtigste Bezugsperson. Sie ist klug, sie hat sich allein lesen und schreiben beigebracht, sie ist intelligent, aber das ist in den Augen des Vaters nicht unbedingt ein Vorteil. Im Arme-Leute-Viertel, in dem die zwei Mädchen aufwachsen, geht es laut und derb zu. Auch Gewaltausbrüche sind an der Tagesordnung, der Vater als Patriarch steht über Allen. Väter können die Zukunft und das Schicksal ihrer Kinder bestimmen, weit ins Erwachsenenalter hinein. Elena weiß, dass Bildung ein Weg aus diesem Kreislauf sein könnte, Lila wählt den Weg der Heirat mit einem aufstrebenden, wohlhabenden Mann, beide wollen durch ihre Entscheidungen den Verhältnissen entkommen. Ob es beiden gelingt?
Das Buch erinnerte mich an die großartigen Schwarz-Weiß-Filme des italienischen Neorealismus. Das neapolitanische Viertel wird sehr authentisch und kraftvoll dargestellt, die Familien, die eng zusammenwohnen, die Konflikte, die Beziehungen, das hat mir sehr gut in der Darstellung gefallen. Fast meine ich die Lautstärke im Ohr zu haben, so lebendig ist die Darstellung. In diesem Zusammenhang fand ich auch das Personenregister am Anfang des Buches sehr hilfreich.
Die Sprache ist bildreich, durch die Ich-Erzählerin ist der Leser unmittelbar ins Geschehen eingebunden. Die Erinnerungen Elenas sind lebendig und doch hinterfragt sie sich immer wieder. Fast habe ich das Gefühl, dass sich Elena nicht sicher ist, ob Lila sie wirklich mochte. Zu prägend waren die Erfahrungen von Zurückweisungen und Verletzungen. In diesem Buch lerne ich Lila ja nur aus der Sichtweise von Elena kennen und die Erinnerungen sind durch ein langes Leben verwaschen.
Ich habe dieses Buch sehr gern gelesen, es ist eine Entdeckung, denn es wurde in Italien bereits 1991 veröffentlicht. Ich bin wirklich eingetaucht in diese beiden Frauenleben. Ich bin gespannt, ob mich diese Faszination noch durch drei weitere Bände trägt.