Rezension (4/5*) zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher
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„Lügen über meine Mutter“, so der Titel von Daniela Dröschers Roman, hat einen nicht sehr passenden Titel. Eigentlich müsste es „Lügen über meine Eltern“ heißen, aber auch dies trifft es letztlich nicht, denn „Lügen“ gibt es in diesem autofiktionalen Roman eigentlich nur wenige. Vielmehr handelt es sich um die Beschreibung eines Familienlebens in den 80er Jahren aus der Perspektive des Kindes Ela, geboren 1977, die, limitiert durch ihren kindlichen Erfahrungshorizont, eine unzuverlässige und parteiische Erzählerin erster Güte ist. Denn Elas Anliegen ist sehr klar: uneingeschränkte Sympathielenkung zugunsten der hart arbeitenden, pflichterfüllten und vom Vater sehr ungerecht behandelten und stetig bezüglich ihres Gewichts drangsalierten Mutter. Auch wenn Ela immer wieder kurzzeitig um Verständnis für den Vater wirbt und Momente der Zuneigung und auch der Anbetung für ihn durch ihre kindlichen Emotionen flackern, wird dem Leser schnell klar, was er denken soll: der Vater ist eine naive und egoistische Zumutung, ein Versager, dem die Fassade wichtig ist, ein Mann, der über seine Verhältnisse lebt und keine nennenswerten Erfolge verbuchen kann – so zumindest die Zusammenfassung, die sich aus Elas Bericht ergibt. Die Mutter hingegen ist eine aufopferungsvolle Heldin, fast eine Heilige, die sich nicht nur um die eigenen Kinder, sondern auch noch um ein Pflegekind liebevoll kümmert, die an Demenz erkrankte Mutter ohne fremde Hilfe pflegt, arbeiten geht, kreativ zusätzliche Verdienstmöglichkeiten auftut, sich fortbildet und alle Anfeindungen des Vaters und der Schwiegermutter mit stoischer Würde erträgt. Wäre der Roman nicht aus der unzuverlässigen Perspektive eines Grundschulkinds erzählt, dann könnte es glatt als Heiligenbiographie gelten, so wird er zur Hommage an die Mutter, eine ausgedehnte Liebeserklärung, die sich auch gut als extensive Muttertagskarte machen würde.

In seiner Darstellung zielt der Roman, ähnlich vielleicht Mareike Fallwickels „Die Wut, die bleibt“ auf die Emotion der Leser ab. Man soll ärgerlich, sprachlos und fassungslos werden und sich fragen, wie so ein Familiensystem funktionieren kann. Aber genau da liegt auch die Crux. Das Familiensystem in den 80ern war noch ein völlig anderes (und die Mutter von Ela ist schon ziemlich fortschrittlich: immerhin arbeitet sie, hat eigenes Geld, will mit ihrem Chef auf Dienstreise nach Marokko etc. und ist nicht mit dem heutigen zu vergleichen), sodass sich mein Entsetzen tatsächlich sehr in Grenzen hält. Darüber hinaus entscheidet sich die Mutter für dieses Leben. Die psychologisch inspirierten eingeschobenen Passagen der erwachsenen Ela, die das damalige Geschehen einordnen und kommentieren legen nahe, dass die Mutter all dies wegen ihrer Kinder so lange mitgemacht hat – also noch ein Bonussteinchen auf der Punktekarte im Bereich Aufopferung. Zu guter Letzt kann man nicht umhin anzumerken, dass der Vater überhaupt keine tiefergehende Betrachtung erfährt. Die bereits genannte Sympathielenkung ist haarsträubend einseitig – aber natürlich funktioniert sie wie gewünscht.

Ebenso wie der Roman an sich, denn er ist gut und schnell lesbar und wartet mit sehr viel 80er Jahre Zeitgeist auf, verpackt in Bazooka, Luzie, der Schrecken der Straße, Stufenröcken, Boris Becker und Tschernobyl. All das war für mich ein äußerst unterhaltsamer Nostalgietrip, fast alles habe ich genau wie Ela erlebt und wahrgenommen, daher habe ich diesen Roman tatsächlich auch sehr gern gelesen. Ich wurde vollkommen in meinen Kindheitserinnerungen abgeholt, Elas Empfindungen sind in dieser Hinsicht sehr authentisch. Störend waren allerdings die zahlreichen Fehler, vor allem grammatikalischer Art. Es ist mir schleierhaft, wie ein Text, der so ungenau korrigiert wurde, es in den Druck schafft. Insgesamt für mich aber trotz der platten Sympahtielenkung und ein durchaus gelungener Lesetrip in die 80er.


von: Toni Morrison
von: Peter Buwalda
von: Abdulrazak Gurnah
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wäre der Roman nicht aus der unzuverlässigen Perspektive eines Grundschulkinds erzählt, dann könnte es glatt als Heiligenbiographie gelt.en, so wird er zur Hommage an die Mutter, eine ausgedehnte Liebeserklärung, die sich auch gut als extensive Muttertagskarte machen würde.
Du bringst es mal wieder auf den Punkt!
Hommage an die Mutter - klar, spätestens auf der letzten Seite springt einem das ins Auge.
Unzuverlässig- gut und schön. ABER: Ela schreibt ihre erwachsenen und kritisch reflektierten Einschübe. Und spätestens da passt das nicht mehr. Da kommt sie mit Psychologien und Erklärungen daher, die zum Himmel schreien. Meine Kernfrage, warum die Mutter das alles hat mit sich machen lassen, warum sie selbst ihr Geld verschleudert, wird nicht beantwortet. Unrund das Ganze, nicht nur die Rechtschreibung!
Aber schön, dass wir mit dir noch eine 4-Sterne Rezension in der Sammlung haben;)