Rezension (4/5*) zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher
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Das Buch macht mich so wütend.

Zum Einen bringt es Erinnerungen zurück: Ich war ein dickes Kind, später ein dünner Teenager, dann eine normalgewichtige Frau, dann fettleibig, inzwischen nur noch ‘normal’ übergewichtig, so dass ich in ‘normalen’ Läden einkaufen kann. Zu meinen frühsten Erinnerungen gehört es, Menschen flüstern zu hören über meinen »fetten Arsch, und das in dem Alter«. Fast mein ganzes Leben habe ich mit meinem Gewicht gekämpft, habe verschiedene Diäten ausprobiert, Weight Watchers, Intermittent Fasting etc. Wäre doch ganz einfach, wurde mir gesagt, FDH, friss die Hälfte. Jedes Pfund geht durch den Mund. Viele Menschen haben es sicher nur gut gemeint, aber ich habe meinen Selbstwert immer in Verbindung mit meinem Gewicht gesehen, untrennbar verbunden. Wofür wurde ich vielleicht am häufigsten gelobt? Für Gewichtsverlust. Gut siehst du aus, wie viel hast du abgenommen?

Daniela Dröscher schreibt über Themen, die in den letzten Jahren viel diskutiert wurden: Body Shaming. Übergewicht und die damit verbundene gesellschaftliche Ächtung. Übergewicht und die seelischen Ursachen. Und das ist nicht nur topaktuell, sondern auch wichtig. Es geht hier um nicht weniger als das Recht eines Menschen, über den eigenen Körper zu bestimmen – ohne von allen Seiten dafür beurteilt, verurteilt zu werden.

Alles, ALLES ist in diesem Roman die Schuld der Mutter. Immer. Der Vater lässt keine Gelegenheit aus, seine Frustrationen auf sie zu projizieren, seine tief verwurzelten versteckten Minderwertigkeitsgefühle. Genauer sagt: Alles, was schiefgeht in seinem Leben, ist Schuld ihres Gewichts. Ja. Er wird nicht befördert, weil sie dick ist, das macht Sinn. In seinem Kopf. Ich habe beim Lesen oft geradezu geschäumt. Die Mutter arbeitet sich kaputt, aber wer dick ist, muss ja auch faul sein. Die Mutter hat gravierende gesundheitliche Probleme, unerträgliche Schmerzen, aber das muss ja wohl an ihrer Fettleibigkeit liegen. Ihr Mann kauft sich mal eben so ein teures Auto, aber SIE gibt zu viel Geld aus.

Das ist Psychoterror vom Feinsten – du kannst als Leser:in nur erahnen, dass dahinter eine tiefverwurzelte Angst des Vaters steckt, im Klassenkampf nicht gewinnen zu können. Die Autorin zeigt ihn nicht als Monster, sondern als verwundeten Menschen.

Immer wieder klingt an: In dieser Familie sind im Grunde alle unglücklich, die Kommunikation ist gewaltsam, die Anforderungen ungerecht. Der Vater, der gefangen ist in einem beschämten Klassendenken, seinem Sehnen nach sozialem Aufstieg, reicht sein Unglück weiter an die Mutter. Die reicht es weiter an die Tochter, indem sie dem kleinen Mädchen aus purer Überforderung zu viel aufhalst. Und die hat schon in sehr jungen Jahren das gestörte Verhältnis zum eigenen Körper verinnerlicht.

Die Mutter ist eine starke, kluge, warmherzige Frau, aber ich wünschte, sie hätte sich im Verlauf der Geschichte stärker emanzipiert, hätte die durchaus vorhandenen Chancen, aus einer toxischen Ehe auszubrechen, genutzt. Es ist eine Leidensgeschichte, eine Opfergeschichte, die Mutter wird über lange Passagen auch literarisch schon wieder ein Stück weit auf ihr Gewicht reduziert – aber das Buch ist ja autofiktional, und so sind die Dinge nun mal gelaufen. Schwierig, das zu vermeiden in diesem Spagat zwischen persönlicher Familiengeschichte und Literatur. Und es ist leicht, als Leser:in zu sagen: Also, spätestens dann hätte ich mir ja meine Kinder gepackt und wäre gegangen. Aber so einfach ist das nicht, war es in den 80ern noch weniger.

Mir gefiel “Lügen über meine Mutter”, das auf jeden Fall. Es ist intelligent geschrieben, durchleuchtet die familiären und gesellschaftlichen Strukturen mit wachem Blick und einer Prise Humor. Das löste ein wahres Gedankenkarussel in mir aus – was will man mehr von einem Roman.

Aber. Aber einen kleinen Kritikpunkt habe ich dann doch.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr hätte ich mir eine Straffung des Romans gewünscht. Vieles wiederholt sich auf den 448 Seiten, ohne dass sich dadurch neue Perspektiven eröffnen würden; das Buch prangert den Status Quo an, ohne den Käfig der Autofiktion meines Empfindens je wirklich aufzubrechen.

Anderseits. Anderseits unterstreicht das, wie rettungslos gefangen sich die Mutter fühlt, weil die Gesellschaft ihr sagt: Das ist deine eigene Schuld. Reiß dich am Riemen. Diese Ehe wird funktionieren, wenn du funktionierst. Als Mutter, als Ehefrau, als Prestigeobjekt. Du musst zurechtkommen mit den Kindern, dem Haushalt, dem Pflegen der dementen Mutter. Und zwar alleine. Da schrammt das Buch oft haarscharf an einer Glorifizierung ihrer Leidensfähigkeit vorbei.

Fazit:

Daniela Dröscher schreibt über ihre Kindheit in den 80ern. Die Plattentektonik ihrer Famile wird scheinbar bestimmt vom Übergewicht der Mutter; die Eltern bewegen sich aufeinander zu, voneinander weg, bis es mal wieder zum Erdbeben kommt: Du bist schuld, sagt der Vater. Wegen dir, weil du nicht vorzeigbar bist, werde ich nicht befördert, nicht anerkannt. Mein Gott, hast du etwa schon wieder zugenommen? Du bist faul. Du hast keinen Elan. Du hast keine Selbstkontrolle.

Dass die Mutter sich halb zu Tode arbeitet, sieht er gar nicht. Zu gefangen ist er in seinen eigenen Minderwertigkeitsgefühlen, zu sehr steht und fällt sein Selbstwert mit seinem gesellschaftlichen Status, den er wiederum untrennbar mit dem Gewicht der Mutter verbindet. Absurd, lachhaft, tragisch. Tragisch für alle Beteiligten. Du ahnst: Wäre es nicht das Gewicht, denn würde der Vater ein anderes Totschlagkriterium finden, um das eigene Scheitern auf die Mutter abzuwälzen.

Der Roman bediente bei mir alle emotionalen Tasten, aber es war vor allem die Wut, die immer wieder aufschäumte ob dieser Ungerechtigkeit, ob dieser Übergriffigkeit. Und damit hat das Buch meines Erachtens schon viel erreicht. Es führt dir glasklar vor Augen, warum der Wert eines Menschen nicht davon bestimmt werden darf, wie gut oder schlecht sich sein Körper ins vorherrschende Schönheitsideal fügt, warum das auch Teil des patriarschalichen Instrumentariums ist.

von: Zadie Smith
von: Andreas Pflüger
von: Sylvie Schenk
 
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Reaktionen: Emswashed

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.725
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49
Wow, eine sehr persönliche Rezi obwohl das Buch Deinen autofiktionalen Käfig nicht aufbrechen konnte. Schade für Dich, aber treffend in der Beschreibung des Buches.
 

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