Rezension Rezension (4/5*) zu Locked In: Das zweite Leben von Martin H. Wilhelm.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
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7.675
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Thriller oder nicht?

Tom ist ein junger Familienvater und recht erfolgreich in seinem Beruf als Übersetzer. Nach einem Streit mit seiner Frau macht sich Tom eines Morgens zu spät auf den Weg zu einem Auftrag - und gerät in einen Autounfall. Dann wird alles schwarz um ihn. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich im Krankenhaus. Und kann sich nicht mehr bewegen - kein einziger Muskel seines Körpers gehorcht ihm noch. Locked-In-Syndrom, so lautet die Diagnose - eingeschlossen im eigenen Körper. Obschon Tom bei Bewusstsein ist und versucht sich bemerkbar zu machen, erkennt die Umwelt zunächst nichts davon. Toms Verzweiflung wächst stündlich...

Endlich wird deutlich, dass Tom auf bestimmte Reize reagiert. Er lässt sich auf eine riskante Hirnoperation ein, weil es danach möglich sein könnte, dass er über computergesteuerte Signale einen Teil seiner Muskelfunktionen zurück erhält. Mühsame Therapien und kleinste Fortschritte folgen - eine zermürbende Zeit für Tom. Seine Familie sieht er nur am Wochenende, und die Zweifel wachsen, ob seine Ehe unter diesen Voraussetzungen noch eine Zukunft hat. An manchen Tagen fällt es Tom schwer, nicht zu verzweifeln.

Doch hat er plötzlich noch ein ganz anderes Problem. Er hört unvermittelt Töne in seinem Kopf, später auch noch eine Stimme. Verliert er jetzt zu alledem auch noch den Verstand?! Als diese Stimme ihm mitteilt, dass sie aus der Zukunft zu ihm spricht, hofft Tom, dass niemand merkt, dass er am Abgrund des Wahnsinns steht. Doch die Versprechungen der Stimme sind enorm verlockend. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass Tom, so wie die Stimme es ihm zusichert, in einer anderen Zeit in einem Klon seines Körpers ein anderes Leben führen kann - ein Leben ohne Behinderung? Er lässt sich auf das Wagnis ein - und überschreitet damit mehr als eine Grenze...

"Ein Wissenschaftsthriller, der die heutigen Möglichkeiten der Technik und der Medizin konsequent weiterdenkt" - so verspricht es der Klappentext.

Tatsächlich bietet dieser Roman ein interessantes Gedankenexperiment, wobei das Locked-in-Syndrom eine zentrale Rolle spielt. Eine akribische Recherchearbeit des Autors ist hier erkennbar, was dieses Syndrom anbelangt, und Martin H. Wilhelm, selbst Mediziner, führt schlüssig und eindringlich vor Augen, was solch ein Zustand für den Betroffenen bedeutet - und für seine Angehörigen. Die Verzweiflung, das Hoffen, die Ungeduld, das Gefühl der Aussichtslosigkeit, der Abschied von Lebensplänen... All dies wird für den Leser nahezu spürbar.

Die Ausblicke in die Möglichkeiten von Technik und Medizin sind gleichzeitig spannend und gruselig - weil nicht ganz unvorstellbar. Wer weiß schon, welche Fortschritte in absehbarer Zeit möglich sind? Den Sprung in die Zukunft sehe ich hierbei nur als Mittel zum Zweck, um diese etwaigen Möglichkeiten auszuleuchten - wirkliche Science Fiction stelle ich mir anders vor. Interessant und wichtig finde ich hier, dass der Autor mit seinem Protagonisten diese Fortschritte durchaus auch hinterfragt. Ein Weiterleben in Klonen würde Unsterblichkeit bedeuten. Für wen? Und zu welchem Preis? Und welche Unruhen würden entstehen, wenn man diese Möglichkeit nicht allen Menschen zugänglich macht? Philosophische Anklänge, die im Roman nicht dominieren, aber doch nachdenklich machen. Wieder einmal die Frage: darf alles sein was möglich scheint?

Genau diese benannten Fragestellungen stecken letztlich auch hinter dem Thrilleranteil, der sich für mein Empfinden jedoch lediglich auf das letzte Viertel des Romans beschränkt, was für mich nicht ausreicht, um von einem wirklichen Spannungsbogen oder von einer durchgehenden Spannung im Roman zu sprechen. Der Begriff 'Wissenschafts-Thriller' scheint für mich insofern falsch gewählt.

Der Spannungsteil war in meinen Augen noch dazu recht unspektakulär und konnte mich leider nicht überzeugen. Während sich der Autor in den vorhergehenden Abschnitten Zeit bei der Erzählung ließ, um die Problematiken und Fragestellungen ausreichend auszuleuchten, überstürzten sich im letzten Teil die Ereignisse, und insgesamt wirkte die Handlung für mich zu bemüht konstruiert und teilweise für auch nicht nachvollziebar. Der Roman musste irgendwie zu einem Ende geführt werden. Für mich letztlich ernüchternd - und ein wenig fühlte ich mich da einfach im Regen stehen gelassen...

Da ich aber abgesehen von der Frage 'Thriller oder nicht' den Roman mit großem Interesse gelesen habe, würde ich hier gerne 3,5 Sterne vergeben, die ich nun auf 4 Sterne aufrunde, denn Martin H. Wilhelm präsentiert dem Leser letztlich etwas, über das es sich nachzudenken lohnt.


© Parden