Rezension Rezension (4/5*) zu Lied der Weite von Kent Haruf.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Weites Land und gute Menschen in Holt/Colorado

Kent Haruf hat (wenn ich richtig zähle) mit „Lied der Weite“ seit 1999 nun seinen siebten Roman herausgebracht. Und mit all diesen Romanen entführt er den Leser in eine konkret anmutende, aber vollkommen fiktive Gemeinde namens Holt in Colorado.
Es ist mein erstes Haruf-Buch. Deshalb fällt es mir schwer zu beurteilen, inwieweit die Romane außer dem Handlungsort noch durch weitere Elemente miteinander verbunden sind und vielleicht auch über Romangrenzen hinweg gehende Geschichten erzählen und Handlungsstränge weiterentwickeln. Ich konzentriere mich deshalb vollkommen auf den Roman „Lied der Weite“ und die darin entwickelten Handlungsstränge.
Worum geht es?
Der Roman erzählt uns die Geschichte einer Handvoll von Figuren aus diesem Ort, die von sehr unterschiedlicher Intensität, Erzähltiefe und Bedeutung für den Gesamtroman sind. Die verschiedenen Figuren stellen auch die Kapitelüberschriften, was bezeugt, wie sehr sie und ihre Schicksale im Zentrum des Autoreninteresses stehen.
Da ist vor allem:
• Viktoria Roubideaux, eine 17-jährige Highsschool-Schülerin, die schwanger wird und von ihrer Mutter aus diesem Grund rausgeschmissen wird. Sie wendet sich an eine ihrer Lehrerinnen um Hilfe – Maggie Jones, und findet sie auch dort.
• Die McPheron-Brüder Raymond und Harold, die weit ab des Ortes eine Rinderfarm betreiben und die Viktoria in ihrer Notlage auf sehr verschrobene, aber auch liebevolle Weise aufnehmen.
• Tom Guthrie und seine Söhne Ike und Bobby, die gerade lernen, ohne ihre Ehefrau bzw Mutter ihr Leben zu meistern, da diese sich - von Depressionen geplagt - zunächst in die Einsamkeit einer eigenen Wohnung und dann in die Obhut ihrer Schwester in Denver begeben hat.
Um nur die wichtigsten zu nennen.
Zu Beginn des Buches gerät der Leser zunächst mit jedem Kapitel wieder an eine neue Romanfigur, ohne dass es zunächst gelingt, Verbindungslinien und Zusammenhänge zu erkennen. Es ist wie eine ruhige, aber auch ereignisreiche Fahrt mit einem Hop on-Hop off-Bus durch die kleine Gemeinde. Und bei jedem Stopp wartet ein neuer Charakter, ein neues Schicksal, eine neue Geschichte. Es dauert einige Kapitel und viele Seiten, bis der Leser diese einzelnen Puzzleteile sinnvoll zueinander positionieren kann und die Geschichten erkennt, die mit den Figuren verbunden sind und sich entwickeln. Diese Geschichten bieten dabei keine Sensationen, vielmehr schildert Haruf das ganz normale Leben in dieser Kleinstadt im Westen der USA. Der Leser taucht immer mehr ein in diesen normalen Alltag in Holt und beginnt ihn immer mehr zu verstehen und – wenn ich von mir spreche – auch immer mehr zu lieben. Es ist eine Wohlfühlgesellschaft, die Haruf hier entwirft, auch wenn nicht alles ohne Probleme abläuft. Ganz im Gegenteil: es gibt eine jugendliche Schwangere (Viktoria), einsame Alte (Mrs Stearns), auseinanderbrechende Familien und Ehen (Guthrie) mobbende Jugendliche (Russell). Und doch hat Haruf in seiner geschaffenen Romanwelt in der Regel schnell und effektiv Lösungen für die aufgezeigten Probleme parat. Die Gesellschaft in Holt ist so gut funktionierend, dass private Probleme aufgefangen und zumindest gemildert werden können.
Bei allen Horror- und Skandalmeldungen, die uns derzeit tagtäglich aus den USA erreichen, ist das eine sehr beruhigende Botschaft und ein beruhigendes Bild, das dieser Roman abgibt und vermittelt. Ich habe mich beim Lesen hineinversinken lassen und es immer wieder geglaubt und/oder glauben wollen. Zweifel aber bleiben! Ist diese Wohlfühlwelt das wirkliche Amerika, oder wird uns hier etwas vorgegaukelt? Der Ort Holt wird extra von Haruf aus der Taufe gehoben und erfunden für seine Gesellschaftsromane. Es ist also kein realer Ort. Deshalb ist das hier vielleicht gar nicht das reale Amerika?!? So kann ich das nicht sehen! Denn: Gerade weil Haruf extra einen Ort erschafft und nicht auf einen existierenden zurückgreift, macht er ihn zum Musterort für ein Land und muss deshalb auch damit rechnen, dass die Leser hier Ableitungen auf das wirkliche Amerika erwarten. Und da habe ich eben dann doch bei aller Freude an der Lektüre meine Fragezeichen im Gehirn. Bin ich hier dem Autor auf den Leim gegangen? Gern wünsche ich mir diese Wohlfühlwelt, in der für Probleme in der Regel eine menschliche Lösung vorhanden ist und in die Tat umgesetzt wird. Aber kann ich wirklich darauf bauen? Ich setze da einige Fragezeichen ?????
Und dennoch war es eine schöne, lohnende Lektüre, für die ich 4 Sterne vergebe.