Rezension Rezension (4/5*) zu Leinsee von Anne Reinecke.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Leinsee von Anne Reinecke
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Ein Debüt mit großer Klasse und Potential

Als sich eine ansehnliche Gruppe von Bücherfreunden auf Whatchareading fand, um gemeinsam Leinsee von Anne Reinecke zu lesen, haben wir uns dabei alle auf ein Leseabenteuer eingelassen, denn mit dieser Autorin konnte keiner von uns zuvor etwas anfangen. Es ist ein Debütroman, mit dem der Diogenes-Verlag mal wieder einen besonders guten und perspektivischen Griff getan hat. Und wir als frühe Leser konnten davon quasi in erster Reihe profitieren. Dank hier nochmal an den Verlag und die Organisation der Leserunde durch Whatchareading.
Worum geht es?
Karl, kehrt nach vielen Jahren der absoluten Funkstille mit und zu seinen Eltern wieder in das Haus seiner Kindheit zurück. Es ist ein Heim in toller Umgebung – direkt am See gelegen – und mit einer künstlerischen Atmosphäre, in der die Eltern, ein VIP-Künstlerehepaar bisher ihre weltweit beachteten und begehrten Kunstobjekte aus Harz gefertigt haben.
Karl kehrt wegen einer bzw. zwei Tragödie(n) zurück. Sein Vater hat sich das Leben genommen und seine Mutter liegt mit einer fast aussichtlosen Prognose im Krankenhaus. Das Haus verlassen hat er vor vielen Jahren, als die Eltern ihn in jungen Jahren in ein Internat gesteckt haben, aus dem er zwar noch einige Male in den Ferien zurückkehrte, nach dem Schulabschluss aber riss der Kontakt ohne irgendeinen Streit dann aber vollkommen ab. Der Roman vermittelt zunächst den Eindruck, dass diese Trennung einfach aus dem gleichseitigen Willen und Streben beider Seiten quasi selbstverständlich und ohne Leid und Trauer vonstatten gegangen ist. Die Eltern werden im Roman als sehr stark aufeinander und auf ihre gemeinsame künstlerische Arbeit fixiert geschildert. So leben sie quasi in einem eigenen Universum, in dem auch für den eigenen Sohn Karl kein Platz zu finden ist.
Und auch von Karl erfährt der Leser zunächst nicht andeutungsweise von einer Trauer über diese Trennung. Er lebt in dieser Zeit ebenfalls als Künstler, aber ganz bewusst unter einem anderen Namen, um der Öffentlichkeit keinen Hinweis auf seinen verwandtschaftlichen Zusammenhang zu den berühmten Künstlereltern zu geben.
Seine Rückkehr in das Haus seiner Kindheit und seiner Eltern aber löst etwas in ihm aus, dem der Roman sehr unaufgeregt, sensibel und interessant nachspürt. Karl richtet sich in diesem Heim so ein, dass er so weit es geht irgendwie wieder in die Kindheit zurückschlüpft, lässt sein dynamisches und nach ihm verlangendes Berliner Künstlerleben (recht oder schlecht) ohne ihn auskommen, bricht seine langjährige Beziehung ab, knüpft eine ganz zarte und besondere Bande zu einem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft und richtet sich als Künstler mit neuen Projekten und neuer Ausrichtung schließlich in Leinsee ein.
Über diesen ganzen geschilderten Zeitraum, in dem Karl seine fehlende Kindheit irgendwie nachzuholen versucht, immer wieder in kindliche Handlungsmuster rutscht und den Kontakt eher zu der kindlichen Tanja und ihrer ungerichteten Kreativität statt zu dem professionellen Kunstbetrieb in Berlin sucht, begleitet ihn die Autorin in Leinsee zur Freude und zum Genuss ihrer Leser, denn sie schafft damit eine leise, stille, anmutige Innen- und Außenwelt ihres Helden, dem zumindest ich als Leserin nur allzu gerne gefolgt bin.
Auch am Ende des Buches kann ich nun nicht genau ausmachen, was es denn ist, das mir an diesem Roman so gefällt und mich einnimmt, aber er tut es einfach auf seine ruhige und sensible Art. Hervorheben möchte ich aber doch auf jeden Fall das Farbenspiel des Romans, in dem jedes Kapitel einen sehr kreativen Farbtitel erhält und damit für den Leser dem Geschehen eine Farbe vorausschickt, der der Leser dann während der Lektüre des Kapitels nachspürt und Gegenstand, Ort und Bedeutung der jeweiligen Farbe zu finden und zu interpretieren sucht. Das ist ein ganz besonders interessanter Kunstgriff der Autorin, der dem Stoff dieses „Künstlerromans“ sehr angemessen ist und die künstlerische, sinnenorientierte Atmosphäre des Textes unterstreicht.
Mein Fazit also:
Ein Roman, der auf etwas rätselhafte, aber wirkungsvolle Weise für sich einnimmt und den Leser in eine Welt entführt, in der er sich mit seiner Lektüre gern einrichtet bei allen Schwierigkeiten und bei allem Leid, der in der Welt des Romans auch geschieht.
Ich vergebe 4,5 Sterne.


 
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