Rezension (4/5*) zu Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition von Leo Tolstoi

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Auch ein Klassiker darf fragwürdigen Inhalts sein

Nun, Leo – was hast Du zu deiner Verteidigung zu sagen? Da schreibst du ein Jahrhundertwerk á la „Anna Karenina“ und veröffentlichst dann Jahre später die diskussionswürdige „Kreutzersonate“???

Nun gut, man muss einem der größten Literaten Russlands auch mal einen kleinen (literarischen) Fauxpas durchgehen lassen. Und ganz so negativ, wie die einleitende Übertreibung suggerieren könnte, ist die „Kreutzersonate“ nun auch wieder nicht *g*. Nicht umsonst gilt sie ja als Klassiker und wurde jetzt in einem fröhlichen Grünton (im Nachhinein wird mir klar, warum Grün als Farbe des Einbands gewählt wurde *g*) in der Reihe „Penguin Edition“ in der Übersetzung von Olga Radetzkaja neu veröffentlicht. Und doch...

Der Ich-Erzähler trifft auf einer Bahnreise quer durch Russland auf einige Frauen und Männer, die sich in einem angeregten Gespräch über Liebe und ihre „Auswirkungen“ unterhalten. Dann fängt Gutsbesitzer Posdnyschew an, seine Geschichte zu erzählen und die geneigte Leserschaft reibt sich verwundert die Augen: was bitteschön passiert hier gerade? Ist es der gleiche Autor, der Jahre zuvor eine der tragischsten Liebesgeschichten der jüngeren Literatur veröffentlicht hat und jetzt einen auf Moralapostel macht?

Tolstoi legt Posdnyschew einige gewagte Thesen über die Versklavung der Frau, Enthaltsamkeit etc. in den Mund, die den geneigten Leser zunächst mit offenen Augen sprachlos werden lässt. Doch im Nachgang bzw. –wort finden sich Erklärungen zu den teilweise fragwürdigen Äußerungen; so hat Tolstoi vor der „Kreutzersonate“ eine Zäsur durchlebt, die ihn in eine recht orthodoxe Richtung „driften“ ließ – davon zeugt auch seine im Nachwort zitierte „Beichte“ von 1882. Ob und was die geneigte Leserschaft von diesen verschriftlichten Thesen hält – nun, dass muss jede*r für sich entscheiden.

Posdnyschew ist ein von krankhafter Eifersucht Besessener, der in allem, was seine Frau und ein befreundeter Musiker unternehmen, Anzeichen der Untreue sieht. Diese Eifersucht steigert sich in ihrem (seinen) Wahn bis zum dramatischen Finale...

Möge der Inhalt der „Kreutzersonate“ moralisch nicht (immer) einwandfrei und darum überaus diskussionswürdig sein – sprachlich ist die Novelle ein Meisterwerk. Die heraufbeschworenen Stimmungen und Bilder, die Tolstoi bravourös formuliert hat, wirken nach und lassen mich (mit etwas Abstand) meine Bewertung von knappen 3,5 auf durchaus verdiente (mit steigender Tendenz) 4 Sterne erhöhen.

©kingofmusic


 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich habe das mit der grünen Farbe leider nicht verstanden ... :D
Ich hatte beim Verfassen der Rezension spaßeshalber mal geschaut, was die Farbe Grün bedeutet - und dabei kam heraus, dass grün in der Psychologie nicht nur für Leben, Glück etc. steht, sondern auch für Unreife und Gift - nun, einiges im Text ist ja für Posdnyschew (Tolstoi) Gift; so hab ich es mir dann erklärt :D.
 
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Reaktionen: Die Häsin

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ja, giftgrün gibts natürlich ...
Vielleicht hat den Verlag auch an Tolstojs Vorliebe fürs Landleben gedacht.
In "Anna Karenina" gibt es ja nach meiner Erinnerung ein paar Überlegungen dazu (in der Verfilmung von 1997 hat man das schön ins Bild gesetzt, wie Lewin mit der Sense mäht und dabei in eine Art Workflow gerät).
Ich lese Anna Karenina gerade, aber es geht nur langsam vorwärts, ich lese noch dies und das parallel.