Rezension (4/5*) zu Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition von Leo Tolstoi

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.241
49.146
49
Gesellschaftsstudie und Psychogramm einer zerrütteten Ehe

Die vorliegende Novelle wurde bereits 1890 in deutscher Übersetzung veröffentlicht. In der farbenfrohen Penguin Klassiker Edition ist sie nun, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übersetzt, als preis- und empfehlenswerte Taschenbuchausgabe erschienen.

Die Gegenwartshandlung findet komplett in einem Zugabteil statt. Der Ich-Erzähler ist bereits den zweiten Tag unterwegs, als sich unter den Mitreisenden eine interessante Debatte über die Ehe entwickelt. Dabei treffen im Kern zwei gegenläufige Ansichten aufeinander: Eine offenbar moderne, mittelalte Dame proklamiert, die Ehe dürfe nur aus Liebe geschlossen werden, nur sie bilde die Basis für eine lebenslange Bindung. Ein älterer Herr indessen plädiert für die arrangierte Ehe, in der sich die Frau komplett unterzuordnen habe und sich vor ihrem Gemahl fürchten solle. Liebe könne man lernen. Auf der Grundlage dieser Thesen entwickelt sich eine angeregte Debatte unter den Reisenden. Als der alte Mann gegangen ist, beteiligt sich auch ein bisher schweigsamer Mann am Gespräch, der sich recht bald als Posdnyschew vorstellt. Er empfindet die Liebe, die sich seiner Ansicht nach ausschließlich aus der Leidenschaft speist, als vergänglich. Die Männer heirateten nur, um der Möglichkeit des regelmäßigen Beischlafs willen, die Frauen, um möglichst gut versorgt zu sein. Letztere würden sich dadurch lebenslang prostituieren.

Posdnyschew setzt seine für die damalige russische Gesellschaft fortschrittlichen Thesen interessant auseinander. Die sexuelle Sinnlichkeit ist für ihn das Grundübel, das die Menschen von der wahren Liebe abhalte. Er legt die Paradoxien zwischen den Geschlechtern dar: Männer dürfen sich ungehemmt der Unzucht hingeben, Frauen müssen auf ihre Unschuld und Sittsamkeit achten. Als Leser setzt man sich automatisch mit dieser ethisch-moralischen Diskussion auseinander. Teilweise ist man überrascht, wie aktuell und modern argumentiert wird, teilweise ist man irritiert, weil die gezogenen Schlüsse doch gar so abstrus sind.

Posdnyschew gibt sich seinen Mitreisenden als pressebekannter Mörder seiner Gattin zu erkennen. Sodann schildert er seine problematische Ehe mit der deutlich jüngeren Frau. Fünf Kinder sind daraus hervorgegangen. Auch er hat ehedem den Kardinalfehler begangen, sich aufgrund seiner Leidenschaften zu verheiraten. Die Ehe war nicht glücklich, außer dem Geschlechtstrieb gab es nichts Verbindendes. Posdnyschew rechtfertigt sich, er sieht das Grundübel in den gesellschaftlich-moralischen Verwerfungen. Würden alle Menschen enthaltsam leben, würde es niemals solche Spannungen geben, die zum Mord an seiner Frau führten.

Seine Thesen sind fragwürdig. Posdnyschew monologisiert, redet sich in Rage. Er schildert unterschiedliche Zerwürfnisse, denen zwar Versöhnungen folgten, jedoch wurde die Dynamik stärker, die Abwärtsspirale unübersehbar. Er steigerte sich zunehmend in rasende Eifersucht und war überzeugt, dass seine Frau ihn mit einem Musiker betrog…

Das alles liest sich spannend und kurzweilig. Für damalige Zeiten dürften die vertretenen Theorien fortschrittlich gewesen sein, insbesondere was die erstrebenswerte Gleichberechtigung von Mann und Frau betrifft. Geschmunzelt habe ich darüber, dass auch damals schon Kinder ins Fadenkreuz zerstrittener Eltern gerieten und entsprechend für deren Ziele missbraucht wurden. Manches ist (leider) zeitlos.

Insgesamt konnte mich die zweite Hälfte der Novelle aber nicht mehr so sehr fesseln wie die erste. Dieses Psychogramm einer Ehe, das in einem Mord aus Eifersucht mündet, wächst sich zu einem ungeheuren Drama mit viel Theatralik aus. Mord- und Selbstmordphantasien wechseln sich ab. Man bekommt zunehmend den Eindruck, dass der vermeintliche Betrug nur im Kopf des Ehemannes stattgefunden hat, was sein Misstrauen nährte und den Argwohn befeuerte – einer Paranoia gleich. Dabei rechtfertigt sich der Täter, dreht sich im Kreis, wiederholt sich. Seine Gedankengänge kann man schwer nachvollziehen, zu sehr kreist er um seine eigenen männlichen Befindlichkeiten.

Nicht umsonst gehört die Kreutzersonate zum Kanon der Weltliteratur. Tolstoi war seiner Zeit voraus und hat wichtige sozio-gesellschaftliche Themen angesprochen und Diskussionen darüber entfacht. Er hat erkannt, dass die Unterordnung der Frau nicht wünschenswert sein kann. Ob sexuelle Enthaltsamkeit allerdings die Lösung aller zwischenmenschlichen Probleme wäre, wage ich anzuzweifeln. Genau das war das Ziel des Autors: Zweifel säen, Diskussionen und Veränderungen in Gang bringen. Gemäß Nachwort von Olga Martynova war Widersprüchlichkeit Tolstois Triebkraft.

Die Novelle bewegt sich vom Allgemeinen zum Persönlichen Posdnyschews und endet in einer Tragödie. Sprachlich hat mir das Buch sehr gut gefallen. Tolstoi ist ein guter Beobachter seiner Zeit gewesen, sprachlich überzeugt er unter anderem mit exemplarischen Figuren und ironischen Bildern, auch wird die kranke Raserei des Protagonisten bis zum Ende psychologisch dicht und glaubwürdig transportiert. Die Redundanzen in der zweiten Hälfte führen zwar zum Abzug eines Sternchens, trotzdem möchte ich die Kreutzersonate allen Freunden klassischer Literatur ans Herz legen. Sie ist leicht verständlich und eignet sich auch als Einstieg in das Werk des Autors.

 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.555
16.314
49
Rhönrand bei Fulda
Die hab ich einmal gelesen und einmal vom wunderbaren Ulrich Noethen gelesen gehört. Weltliteratur!
Ich habe es vor 40 Jahren oder so mal gelesen, kann mich aber fast an nichts erinnern. Es wird ja immer in einem Atemzug genannt mit "Effie Briest" und "Madame Bovary" (und man könnte auch den spanischen Roman "Die Präsidentin" noch dazuzählen), alles Bücher, die ich wesentlich besser kenne. Da besteht Lesebedarf. :D
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.371
21.160
49
Brandenburg
Das ist eine sehr barmherzige Rezension. Besser als "die Sonate" selber.
"Er hat erkannt, dass die Unterordnung der Frau nicht wünschenswert sein kann". Hat er? Darüber wird eigentlich nichts gesagt. Im Gegenteil, er möchte der Beherrscher des Frauenkörpers sein, er will seine Frau besitzen mit Leib und Seele.
Verdient im Kanon der Weltliteratur? Eher nicht. Ich bin entsetzt, dass der Autor großartiger Romane dennoch so einen schwachen Roman verzapfen konnte.
Immerhin werde ich mich mal biografisch mit dem Leben Tolstois auseinandersetzen. Diese Neugier hat der Roman bewirkt, also ist er nicht ganz vergeblich wieder aufgelegt worden. Aber fast!
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.241
49.146
49
Das ist eine sehr barmherzige Rezension. Besser als "die Sonate" selber.
So bin ich eben. Immer barmherzig, immer nett;)

Es gibt ein gleichnamiges Werk von Margriet de Moor

Buchinformationen und Rezensionen zu Kreutzersonate: Eine Liebesgeschichte von Margriet de Moor
Kaufen >
Ich habe Lust, dieses dünne Büchlein zeitnah zu lesen. Ob es Parallelen gibt? Oder hat es mehr Bezug zu Beethoven?
@RuLeka wird es bestimmt wissen.
 
  • Like
Reaktionen: Die Häsin

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.068
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
So bin ich eben. Immer barmherzig, immer nett;)

Es gibt ein gleichnamiges Werk von Margriet de Moor

Buchinformationen und Rezensionen zu Kreutzersonate: Eine Liebesgeschichte von Margriet de Moor
Kaufen >
Ich habe Lust, dieses dünne Büchlein zeitnah zu lesen. Ob es Parallelen gibt? Oder hat es mehr Bezug zu Beethoven?
@RuLeka wird es bestimmt wissen.
Den Roman von Magriet de Moor habe ich vor langer Zeit mal gelesen. Ist mir aber sehr positiv in Erinnerung geblieben.
 
  • Like
Reaktionen: RuLeka und Die Häsin

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.403
23.949
49
66
So bin ich eben. Immer barmherzig, immer nett;)

Es gibt ein gleichnamiges Werk von Margriet de Moor

Buchinformationen und Rezensionen zu Kreutzersonate: Eine Liebesgeschichte von Margriet de Moor
Kaufen >
Ich habe Lust, dieses dünne Büchlein zeitnah zu lesen. Ob es Parallelen gibt? Oder hat es mehr Bezug zu Beethoven?
@RuLeka wird es bestimmt wissen.
Es ist schon ewig her, dass ich dieses Buch gelesen habe. Bei Margriet de Moor steht immer die Musik im Vordergrund. Aber sie spielt auch auf Tolstois Buch an.
Lesenswert wäre sicher aber auch Sofia Tolstois Antwort auf die Novelle ihres Mannes: „ Eine Frage der Schuld“.
Nun könnt ihr gleich ein ganzes Seminar zusammenstellen und alle drei Bücher ins Verhältnis zueinander setzen.
Wenn ich mehr Zeit hätte ( und weniger Leseverpflichtungen ) , würde ich mitmachen.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.371
21.160
49
Brandenburg
Es ist schon ewig her, dass ich dieses Buch gelesen habe. Bei Margriet de Moor steht immer die Musik im Vordergrund. Aber sie spielt auch auf Tolstois Buch an.
Lesenswert wäre sicher aber auch Sofia Tolstois Antwort auf die Novelle ihres Mannes: „ Eine Frage der Schuld“.
Nun könnt ihr gleich ein ganzes Seminar zusammenstellen und alle drei Bücher ins Verhältnis zueinander setzen.
Wenn ich mehr Zeit hätte ( und weniger Leseverpflichtungen ) , würde ich mitmachen.
Spannend!