Gesellschaftsstudie und Psychogramm einer zerrütteten Ehe
Die vorliegende Novelle wurde bereits 1890 in deutscher Übersetzung veröffentlicht. In der farbenfrohen Penguin Klassiker Edition ist sie nun, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übersetzt, als preis- und empfehlenswerte Taschenbuchausgabe erschienen.
Die Gegenwartshandlung findet komplett in einem Zugabteil statt. Der Ich-Erzähler ist bereits den zweiten Tag unterwegs, als sich unter den Mitreisenden eine interessante Debatte über die Ehe entwickelt. Dabei treffen im Kern zwei gegenläufige Ansichten aufeinander: Eine offenbar moderne, mittelalte Dame proklamiert, die Ehe dürfe nur aus Liebe geschlossen werden, nur sie bilde die Basis für eine lebenslange Bindung. Ein älterer Herr indessen plädiert für die arrangierte Ehe, in der sich die Frau komplett unterzuordnen habe und sich vor ihrem Gemahl fürchten solle. Liebe könne man lernen. Auf der Grundlage dieser Thesen entwickelt sich eine angeregte Debatte unter den Reisenden. Als der alte Mann gegangen ist, beteiligt sich auch ein bisher schweigsamer Mann am Gespräch, der sich recht bald als Posdnyschew vorstellt. Er empfindet die Liebe, die sich seiner Ansicht nach ausschließlich aus der Leidenschaft speist, als vergänglich. Die Männer heirateten nur, um der Möglichkeit des regelmäßigen Beischlafs willen, die Frauen, um möglichst gut versorgt zu sein. Letztere würden sich dadurch lebenslang prostituieren.
Posdnyschew setzt seine für die damalige russische Gesellschaft fortschrittlichen Thesen interessant auseinander. Die sexuelle Sinnlichkeit ist für ihn das Grundübel, das die Menschen von der wahren Liebe abhalte. Er legt die Paradoxien zwischen den Geschlechtern dar: Männer dürfen sich ungehemmt der Unzucht hingeben, Frauen müssen auf ihre Unschuld und Sittsamkeit achten. Als Leser setzt man sich automatisch mit dieser ethisch-moralischen Diskussion auseinander. Teilweise ist man überrascht, wie aktuell und modern argumentiert wird, teilweise ist man irritiert, weil die gezogenen Schlüsse doch gar so abstrus sind.
Posdnyschew gibt sich seinen Mitreisenden als pressebekannter Mörder seiner Gattin zu erkennen. Sodann schildert er seine problematische Ehe mit der deutlich jüngeren Frau. Fünf Kinder sind daraus hervorgegangen. Auch er hat ehedem den Kardinalfehler begangen, sich aufgrund seiner Leidenschaften zu verheiraten. Die Ehe war nicht glücklich, außer dem Geschlechtstrieb gab es nichts Verbindendes. Posdnyschew rechtfertigt sich, er sieht das Grundübel in den gesellschaftlich-moralischen Verwerfungen. Würden alle Menschen enthaltsam leben, würde es niemals solche Spannungen geben, die zum Mord an seiner Frau führten.
Seine Thesen sind fragwürdig. Posdnyschew monologisiert, redet sich in Rage. Er schildert unterschiedliche Zerwürfnisse, denen zwar Versöhnungen folgten, jedoch wurde die Dynamik stärker, die Abwärtsspirale unübersehbar. Er steigerte sich zunehmend in rasende Eifersucht und war überzeugt, dass seine Frau ihn mit einem Musiker betrog…
Das alles liest sich spannend und kurzweilig. Für damalige Zeiten dürften die vertretenen Theorien fortschrittlich gewesen sein, insbesondere was die erstrebenswerte Gleichberechtigung von Mann und Frau betrifft. Geschmunzelt habe ich darüber, dass auch damals schon Kinder ins Fadenkreuz zerstrittener Eltern gerieten und entsprechend für deren Ziele missbraucht wurden. Manches ist (leider) zeitlos.
Insgesamt konnte mich die zweite Hälfte der Novelle aber nicht mehr so sehr fesseln wie die erste. Dieses Psychogramm einer Ehe, das in einem Mord aus Eifersucht mündet, wächst sich zu einem ungeheuren Drama mit viel Theatralik aus. Mord- und Selbstmordphantasien wechseln sich ab. Man bekommt zunehmend den Eindruck, dass der vermeintliche Betrug nur im Kopf des Ehemannes stattgefunden hat, was sein Misstrauen nährte und den Argwohn befeuerte – einer Paranoia gleich. Dabei rechtfertigt sich der Täter, dreht sich im Kreis, wiederholt sich. Seine Gedankengänge kann man schwer nachvollziehen, zu sehr kreist er um seine eigenen männlichen Befindlichkeiten.
Nicht umsonst gehört die Kreutzersonate zum Kanon der Weltliteratur. Tolstoi war seiner Zeit voraus und hat wichtige sozio-gesellschaftliche Themen angesprochen und Diskussionen darüber entfacht. Er hat erkannt, dass die Unterordnung der Frau nicht wünschenswert sein kann. Ob sexuelle Enthaltsamkeit allerdings die Lösung aller zwischenmenschlichen Probleme wäre, wage ich anzuzweifeln. Genau das war das Ziel des Autors: Zweifel säen, Diskussionen und Veränderungen in Gang bringen. Gemäß Nachwort von Olga Martynova war Widersprüchlichkeit Tolstois Triebkraft.
Die Novelle bewegt sich vom Allgemeinen zum Persönlichen Posdnyschews und endet in einer Tragödie. Sprachlich hat mir das Buch sehr gut gefallen. Tolstoi ist ein guter Beobachter seiner Zeit gewesen, sprachlich überzeugt er unter anderem mit exemplarischen Figuren und ironischen Bildern, auch wird die kranke Raserei des Protagonisten bis zum Ende psychologisch dicht und glaubwürdig transportiert. Die Redundanzen in der zweiten Hälfte führen zwar zum Abzug eines Sternchens, trotzdem möchte ich die Kreutzersonate allen Freunden klassischer Literatur ans Herz legen. Sie ist leicht verständlich und eignet sich auch als Einstieg in das Werk des Autors.
Die vorliegende Novelle wurde bereits 1890 in deutscher Übersetzung veröffentlicht. In der farbenfrohen Penguin Klassiker Edition ist sie nun, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übersetzt, als preis- und empfehlenswerte Taschenbuchausgabe erschienen.
Die Gegenwartshandlung findet komplett in einem Zugabteil statt. Der Ich-Erzähler ist bereits den zweiten Tag unterwegs, als sich unter den Mitreisenden eine interessante Debatte über die Ehe entwickelt. Dabei treffen im Kern zwei gegenläufige Ansichten aufeinander: Eine offenbar moderne, mittelalte Dame proklamiert, die Ehe dürfe nur aus Liebe geschlossen werden, nur sie bilde die Basis für eine lebenslange Bindung. Ein älterer Herr indessen plädiert für die arrangierte Ehe, in der sich die Frau komplett unterzuordnen habe und sich vor ihrem Gemahl fürchten solle. Liebe könne man lernen. Auf der Grundlage dieser Thesen entwickelt sich eine angeregte Debatte unter den Reisenden. Als der alte Mann gegangen ist, beteiligt sich auch ein bisher schweigsamer Mann am Gespräch, der sich recht bald als Posdnyschew vorstellt. Er empfindet die Liebe, die sich seiner Ansicht nach ausschließlich aus der Leidenschaft speist, als vergänglich. Die Männer heirateten nur, um der Möglichkeit des regelmäßigen Beischlafs willen, die Frauen, um möglichst gut versorgt zu sein. Letztere würden sich dadurch lebenslang prostituieren.
Posdnyschew setzt seine für die damalige russische Gesellschaft fortschrittlichen Thesen interessant auseinander. Die sexuelle Sinnlichkeit ist für ihn das Grundübel, das die Menschen von der wahren Liebe abhalte. Er legt die Paradoxien zwischen den Geschlechtern dar: Männer dürfen sich ungehemmt der Unzucht hingeben, Frauen müssen auf ihre Unschuld und Sittsamkeit achten. Als Leser setzt man sich automatisch mit dieser ethisch-moralischen Diskussion auseinander. Teilweise ist man überrascht, wie aktuell und modern argumentiert wird, teilweise ist man irritiert, weil die gezogenen Schlüsse doch gar so abstrus sind.
Posdnyschew gibt sich seinen Mitreisenden als pressebekannter Mörder seiner Gattin zu erkennen. Sodann schildert er seine problematische Ehe mit der deutlich jüngeren Frau. Fünf Kinder sind daraus hervorgegangen. Auch er hat ehedem den Kardinalfehler begangen, sich aufgrund seiner Leidenschaften zu verheiraten. Die Ehe war nicht glücklich, außer dem Geschlechtstrieb gab es nichts Verbindendes. Posdnyschew rechtfertigt sich, er sieht das Grundübel in den gesellschaftlich-moralischen Verwerfungen. Würden alle Menschen enthaltsam leben, würde es niemals solche Spannungen geben, die zum Mord an seiner Frau führten.
Seine Thesen sind fragwürdig. Posdnyschew monologisiert, redet sich in Rage. Er schildert unterschiedliche Zerwürfnisse, denen zwar Versöhnungen folgten, jedoch wurde die Dynamik stärker, die Abwärtsspirale unübersehbar. Er steigerte sich zunehmend in rasende Eifersucht und war überzeugt, dass seine Frau ihn mit einem Musiker betrog…
Das alles liest sich spannend und kurzweilig. Für damalige Zeiten dürften die vertretenen Theorien fortschrittlich gewesen sein, insbesondere was die erstrebenswerte Gleichberechtigung von Mann und Frau betrifft. Geschmunzelt habe ich darüber, dass auch damals schon Kinder ins Fadenkreuz zerstrittener Eltern gerieten und entsprechend für deren Ziele missbraucht wurden. Manches ist (leider) zeitlos.
Insgesamt konnte mich die zweite Hälfte der Novelle aber nicht mehr so sehr fesseln wie die erste. Dieses Psychogramm einer Ehe, das in einem Mord aus Eifersucht mündet, wächst sich zu einem ungeheuren Drama mit viel Theatralik aus. Mord- und Selbstmordphantasien wechseln sich ab. Man bekommt zunehmend den Eindruck, dass der vermeintliche Betrug nur im Kopf des Ehemannes stattgefunden hat, was sein Misstrauen nährte und den Argwohn befeuerte – einer Paranoia gleich. Dabei rechtfertigt sich der Täter, dreht sich im Kreis, wiederholt sich. Seine Gedankengänge kann man schwer nachvollziehen, zu sehr kreist er um seine eigenen männlichen Befindlichkeiten.
Nicht umsonst gehört die Kreutzersonate zum Kanon der Weltliteratur. Tolstoi war seiner Zeit voraus und hat wichtige sozio-gesellschaftliche Themen angesprochen und Diskussionen darüber entfacht. Er hat erkannt, dass die Unterordnung der Frau nicht wünschenswert sein kann. Ob sexuelle Enthaltsamkeit allerdings die Lösung aller zwischenmenschlichen Probleme wäre, wage ich anzuzweifeln. Genau das war das Ziel des Autors: Zweifel säen, Diskussionen und Veränderungen in Gang bringen. Gemäß Nachwort von Olga Martynova war Widersprüchlichkeit Tolstois Triebkraft.
Die Novelle bewegt sich vom Allgemeinen zum Persönlichen Posdnyschews und endet in einer Tragödie. Sprachlich hat mir das Buch sehr gut gefallen. Tolstoi ist ein guter Beobachter seiner Zeit gewesen, sprachlich überzeugt er unter anderem mit exemplarischen Figuren und ironischen Bildern, auch wird die kranke Raserei des Protagonisten bis zum Ende psychologisch dicht und glaubwürdig transportiert. Die Redundanzen in der zweiten Hälfte führen zwar zum Abzug eines Sternchens, trotzdem möchte ich die Kreutzersonate allen Freunden klassischer Literatur ans Herz legen. Sie ist leicht verständlich und eignet sich auch als Einstieg in das Werk des Autors.
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