Rezension (4/5*) zu Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition von Leo Tolstoi

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Keuschheit als Ideal?

Die Novelle spielt auf einer Zugfahrt, der Ich-Erzähler ist bereits den 2.Tag unterwegs und teilt das Abteil mit einer „hässlichen, nicht mehr jungen, zigarettenrauchenden Dame“ (7) und ihrem Bekannten, einem Anwalt, der tadellos angezogen ist sowie einem kleinen, fahrig wirkenden Herr, der zunächst jedes Gespräch meidet.
Es kommt zu einem Streitgespräch zwischen einem älteren Kaufmann und der Dame, nachdem diese mit dem Anwalt über Ehescheidungen gesprochen hat und der zu dem Alten gewandt fragt: „Früher hat es sowas nicht gegeben, nicht wahr?“ (11)

Die modernen Ansichten der Dame, man solle aus Liebe heiraten, stehen denen des Alten, das Weib habe den Mann zu fürchten und ihm zu gehorchen, gegenüber.
Dieses Gespräch ist jedoch nur der Anlass, dass der kleine, fahrig wirkende Herr sich ins Gespräch einschaltet und die Position vertritt, es gebe keine wahre Liebe, eine Gegenseitigkeit der Gefühle sei unmöglich, „genausowenig, wie zwei gekennzeichnete Erbsen in einer ganzen Fuhre Erbsen nebeneinander zu liegen kommen könnten.“ (21)
Zudem sei man irgendwann übersättigt. Die Ehe werde seiner Meinung nach geschlossen, damit man den Beischlaf vollziehen könne, nicht aus gemeinsamen Idealen heraus. Die Folge sei Betrug, da die Anziehung nachlasse. Er stellt sich als der Posdnyschew vor, der seine Frau umgebracht hat. Die Einleitung ist vollzogen und im Folgenden schildert er dem Ich-Erzähler, wie es zu jener schrecklichen Tat gekommen ist, wobei er immer wieder gesellschaftliche Missstände anspricht und über die Rolle der Sexualität spricht.
Obwohl alle wüssten, dass die Männer vor der Ehe ihrem Vergnügen nachgehen, müssten die Mädchen jungfräulich sein. Tolstoi prangert sehr offen diese Diskrepanz an und sein Protagonist verurteilt dies deutlich, da er glaubt, ein „Schürzenjäger“ könne nie mehr ein reines Verhältnis zu einer Frau haben, während die jungen Mädchen die Betrogenen sind. Er glaubt die Lösung in der Enthaltsamkeit gefunden zu haben. Ziel sei es, dass sich alle Menschen in Liebe vereinten, "was ist es dann, was dem Erreichen dieses Ziels im Weg steht? Es sind die Leidenschaften. Und unter den Leidenschaften ist die stärkste, bösartigste und hartnäckigste die sexuelle, die der körperlichen Liebe (…)" (57)
Ideal ist demnach die Jungfräulichkeit, eine sehr radikale Ansicht, die im Nachwort erläutert wird.

Tolstoi erlitt Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre eine schwere Lebenskrise, obwohl ein weltberühmter Autor, Familienvater und glücklicher Ehemann glaubte er, sein Leben sei sinnlos. Die Autorin des Nachwortes, Olga Martynova, sieht die Ursache in Tolstois Widersprüchlichkeit. Einerseits wurde er von seinen Leidenschaften Eifersucht, Jähzorn und Wolllust getrieben, wie sein Protagonist, andererseits wollte er eben jene überwinden. Daher entwickelte er nach seiner Lebenskrise eine "Weltanschauung, die nicht nur jede Gewalt (von der Wehrpflicht bis zum Fleischverzehr) ablehnte, nicht nur das Eigentum als eine abscheuliche Form des Lebens auf Kosten anderer verurteilte, sondern auch die Ehe, die Kunst, die Kirche und vieles andere, was früher Inhalt seines Lebens gewesen war, ganz verleugnete oder harter Kritik unterzog." (184) So gelangte er u.a. zu der radikalen Ansicht, dass die absolute Keuschheit ein erstrebenswertes Ideal ist. Gleichzeitig könne man auf diese Art und Weise Frauen zu ihrer Gleichberechtigung verhelfen, da sie nicht mehr gezwungen seien, die Rolle der Verführerin zu spielen, sich nicht mehr in der Ehe prostituieren zu müssen.
Eine gleichberechtigte, respektvolle Partnerschaft, in der die Sexualität eine erfüllende Rolle spielt, scheint Tolstoi nicht für möglich gehalten zu haben.

Eine Novelle, die zur Diskussion dieser radikalen Thesen einlädt, gleichzeitig aber auch das Psychodrama einer Ehe erzählt. Schließlich hat Posdnyschew seine Frau aus Eifersucht getötet. Wie es dazu kommen konnte, erzählt er seinem Zuhörer mit Leidenschaft und zunehmender Unruhe. Wie eine aus unserer Leserunde treffend beschrieben hat, könne man die Novelle auch als Psychogramm einer Ehe lesen statt als moralischen Leitfaden. So oder so ist sie lesenswert ;).