Rezension Rezension (4/5*) zu Kim Jiyoung, geboren 1982: Roman von Nam-Joo Cho.

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Die Modellfrau in Südkorea (und überall)

"Kim Jiyoung, geboren 1982" ist eine Modellexistenz, wie das gesichtslose Porträt auf dem Titel bereits nahelegt. Jiyoung ist in einer typischen südkoreanischen Familie aufgewachsen mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder. Das Buch schildert in vier Kapiteln ihre Kindheit und das familiäre Milieu, ihre Schulzeit, Universität und Berufslaufbahn sowie ihre eigene Heirat und Mutterschaft. 2016, als der Roman endet, hat sie eine zweijährige Tochter.

Jiyoungs Leben, wie die Autorin es in schlichter Berichtform beschreibt, ist eine Kette von Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten in einer frauenfeindlichen Gesellschaft. Schon als kleines Kind sieht sie sich und die ältere Schwester zu Gunsten des kleinen Bruders zurückgesetzt. Das geht von der Verteilung der Mahlzeiten bis zur Zuteilung der Kinderzimmer. Dass der Bruder die bessere Ausbildung bekommen soll, ist selbstverständlich. Die Mutter setzt jedoch nicht nur durch, dass auch die Töchter studieren können, sondern sorgt auch für den nötigen finanziellen Rückhalt. Der alltägliche Sexismus setzt sich indessen in Studium und Berufsleben fort und treibt mitunter geradezu groteske Blüten: wird Jiyoung belästigt, ist es ihre eigene Schuld; wehrt sie sich gegen Belästigung, ist sie unhöflich. Jiyoung wird schlechter bezahlt und langsamer befördert als männliche Konkurrenten, obwohl sie einen guten Job macht. Als junge Mutter gibt sie ihren Beruf auf, um sich um das Baby zu kümmern - wie man es von ihr erwartet. Nun kommen zu Einsamkeit und Überforderung noch Herabsetzung durch die Umgebung, weil sie "nicht arbeitet". Bis Jiyoung in der denkbar seltsamsten Form aufbegehrt: sie wird verrückt. Sie schlüpft in die Rollen anderer Frauen in ihrem Umfeld und fordert mit deren Stimme, ihre (Jiyoungs) Rechte endlich zu wahren.

Die Autorin wollte kein spezielles, sondern ein typisches Frauenleben schildern - deshalb ist der Stil durchgehend nüchtern und effektiv; auf Einzelheiten, die Jiyoungs Geschichte zu etwas Individuellem machen könnten, wird weitgehend verzichtet. Das macht das Buch ganz klar nicht zum "Lesevergnügen", stellt aber sicher, dass sich offenbar so gut wie jede südkoreanische Frau (und, muss man hinzufügen, unzählige Frauen weltweit) mit Jiyoung identifizieren könnte. Die unzähligen einander widersprechenden Forderungen, wie sie sein und was sie tun und lassen soll, sind derart überbordend, dass ihr nur die Flucht in psychische Krankheit übrig bleibt.

Wo die Autorin allgemeine Tatsachen anführt, belegt sie diese überdies regelmäßig mit Statistiken, auf die in Fußnoten verwiesen wird. Das Buch liest sich wie eine offensive Diskussionsgrundlage, und so wirkt es auch auf das Lesepublikum, nicht nur in Korea (wo der Roman eine heftige gesellschaftliche Debatte angestoßen hat).

Es ist schwierig, so ein Buch als Roman zu beurteilen; denn gerade das, was ich bei jedem anderen Roman kritisch bewerten würde - die Schlichtheit der Sprache, der ganze Aufbau, der an eine Fallstudie erinnert, das ständige Referieren von Frust, Unmut und ersticktem Protest ohne Atempause - ist hier beabsichtigt und wohlüberlegt eingesetzt. So bleibt nur festzuhalten, dass es ein wichtiges, unbedingt lesenswertes Buch ist, aber kein Buch für gemütliche Stunden am Kamin. Immerhin kann eine letzte, groteske Wendung am Schluss bei der einen oder anderen Leserin vielleicht für einen ungläubigen Lacher sorgen.




 

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