Rezension (4/5*) zu Keine gute Geschichte: Roman von Lisa Roy

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.229
10.410
49
Thüringen
Eine schonungslose Milieustudie aus den Betonblöcken des Ruhrgeb

Eine schonungslose Milieustudie aus den Betonblöcken des Ruhrgebiets

Mit Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ begeben wir uns mit der Ich-Erzählerin Arielle zurück zu ihren Wurzeln in einen Essener „Problemstadtteil“, wie wohl einige Politiker:innen es nennen würden. Dort leben in den Betonsünden der Nachkriegszeit ein großer Anteil von Menschen mit nicht deutsch klingenden Namen und Hauttönen, die eher an Beyoncé als an Helene Fischer denken lassen. Arielle ist eine von ihnen, sie weiß, ihre dunklen Haare und Augen stammen von ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hat. Ihre Mutter ist nicht mehr da, verschwunden, wie wir zügig erfahren, denn Arielle richtet ihre Erzählung an ein „Du“, welches sich als die verschwundene Mutter herausstellt. Nun ist ihre Großmutter mütterlicherseits frisch aus dem Krankenhaus entlassen und nach mehr als zehn Jahren kehrt sie das erste Mal zurück an ihren Ursprung, dem sie den Rücken gekehrt hatte, um – mittlerweile – ihrem erfolgreichen Leben als Social Media Managerin in Düsseldorf nachgehen zu können. Ihre Heimkehr überschneidet sich mit dem Verschwinden zweier neunjähriger Mädchen, die ebenso aus dem Stadtteil stammen und deren Mütter mit Arielle in die Schule gegangen sind. Gezwungenermaßen quartiert sich Arielle eine Weile bei ihrer Großmutter ein, in deren Wohnung Arielle aufwuchs und in der ihr Mädchenzimmer von damals immer noch genauso existiert, wie sie es verlassen hat.

Lisa Roy entwirft mithilfe der hippen Sprache ihrer Ich-Erzählerin das Bild eines Milieus in der Armut von heute. Ungeschönt gibt sie uns Lesenden einen Einblick in die unterste Schicht der Gesellschaft, in der, wie an einer Stelle angemerkt, die Mietverträge in den abgeranzten Wohnungen des Viertels ebenso von einer Generation an die nächste weitervererbt werden wie die Armut und das Übergewicht. Hinter solchen saloppen Feststellungen stecken natürlich gut erforschte soziologische Erkenntnisse, die sich in den letzten Jahren immer mehr bewahrheitet haben: Wer einmal in der Armut steckt, hat kaum Chancen einen sozialen Aufstieg zu schaffen; im Gegenteil geht die Spirale im Zweifel eher abwärts. Arielle ist da eine Ausnahme, sie hatte Glück, war als junge Frau mit ihrem miesen Assistentinnenjob in einer Werbefirma zufällig am Puls der Zeit, als sich die Werbung ins Internet und zu den Influencer:innen bewegte. Nur konnte sie nie das Gefühl abschütteln, eine Hochstaplerin zu sein, die man irgendwann bloßstellen, ihr ihre Herkunft anmerken würde. So zeichnet Roy mithilfe von Erinnerungen Arielles an ihre Kindheit, Jugend und die Zeit in Düsseldorf nach, wie sich diese junge Frau in immer stärker in eine Depression hineinbewegt hat und erst kurz vor dem Anruf, welcher sie in die Wohnung der Großmutter holte, von einem mehrmonatigen Psychiatrieaufenthalt entlassen wurde. Von dort ist sie keinesfalls wie neu geboren zurückgekommen, leidet weiterhin an depressiven Episoden, verkriecht sich nun in ihrem alten Mädchenzimmer mitunter für Tage, oder geht hinaus ins Viertel, macht Bekanntschaft mit John, dem Vater von Ashanti, einer der verschwundenen Mädchen.

Trotz des mitunter hingerotzten, mit zeitgemäßen Anglizismen und auch Sarkasmus gespickten Tons von Arielles Beschreibungen, verdeutlicht Roy sehr klug, wie dieses Milieu, aus dem Arielle stammt, funktioniert. Welche ungeschriebenen Gesetze es gibt, welche vorgezeichneten Lebenswege. Dabei handelt es sich nicht um eine happy-go-lucky Geschichte, in welcher die Großmutter eine warmen, altersweise Funktion einnimmt. Nein, es ist vielmehr relativ schnell klar, dass sich Arielle bestmöglich von dieser Person befreien muss. Aber dafür muss sie zurück gehen, zurück an den Ort ihrer Herkunft aber auch zurück in ihren Erinnerungen. Die Erinnerungen an die Mutter, die mit sechs Jahren enden, die aber durchgängig positiv sind. Eine Spannung des Romans wird nicht nur durch die Annäherung Arielles an die Frage, was damals wirklich mit ihrer Mutter, sondern auch, was in der Gegenwart mit den verschwundenen Mädchen passiert ist, angetrieben. So sagt Arielle an einer Stelle:

„Wenn das hier ein Krimi und nicht mein Leben wäre, würde ich über dich und dein Verschwinden als Puzzle nachdenken. Ich habe ein paar Teile, ein paar sind für immer verloren, aber irgendwo muss es auch noch welche geben, und wenn ich die fände, wäre vielleicht genug vom Puzzle zusammen, um das Bild zu erkennen, auch wenn es ein unvollständiges bleibt.“

Gegen Ende nimmt die Erzählung, die sich zuvor wirklich sehr differenziert mit dem Milieu beschäftigt und Arielles Aufwachsen hat, tatsächlich immer mehr an Spannung zu, fühlt man sich fast in einem Thriller, in dem sich immer mehr Indizien auftun. Leider gibt es hier für mich den einzigen Kritikpunkt am ansonsten wirklich erfrischenden, klugen, mutigen Roman Roys: Arielle bekommt Kenntnis von einem ungeheuerlichen Umstand, der mit dem Verschwinden der Mädchen zusammenhängt, und alles was sie tut, ist wieder in ihr altes Muster zurückzufallen, sie verkriecht sich in ihrem Mädchenzimmer für mehrere Tage und hat Sex mit John. Das wirkt an dieser Stelle aber so abwegig, auch wenn man sich das passive, desinteressierte Verhalten mit der depressiven Grunderkrankung der Protagonistin erklären könnte. Vielleicht wollte die Autorin hier ein Zeichen setzen, dass es sich eben nicht um einen Krimi oder Thriller handelt, trotzdem konnte ich bei dem Fortgang der Geschichte nicht mehr so richtig mitgehen.

Trotz dieses einen Kritikpunktes ist der Debütroman der Autorin über das Aufwachsen in den grausten und rausten Ecken des Ruhrgebiets mit seinem Blick auf den Zusammenhang von Armut und Abstammung ein fraglos empfehlenswertes Buch. Mit erfrischend junger Sprache stellt es den Fokus scharf und regt zum Nachdenken über diese scheinbar fest zementierten Lebenswege an.

4,5/5 Sterne

 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.187
49
Du immer mit deinem Abrunden...:rofl
Ab 4,5 wird mathematisch AUFgerundet.
Das Buch habe ich noch vor mir und freue mich nun noch mehr drauf. Die LP las sich schon vielversprechend.
 
  • Haha
Reaktionen: GAIA

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.229
10.410
49
Thüringen
Du immer mit deinem Abrunden...:rofl
Ab 4,5 wird mathematisch AUFgerundet.
Das Buch habe ich noch vor mir und freue mich nun noch mehr drauf. Die LP las sich schon vielversprechend.
Tatsächlich habe ich hier wirklich sehr geschwankt. Erst waren sogar die 5 Sterne angeklickt, dann aber doch wieder die 4. Meld dich mal, wenn du es gelesen und mit Sicherheit besagte kritische Stelle identifiziert hast. Da würde mich ein kurzer Austausch sehr interessieren.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.187
49
Arielle bekommt Kenntnis von einem ungeheuerlichen Umstand, der mit dem Verschwinden der Mädchen zusammenhängt, und alles was sie tut, ist wieder in ihr altes Muster zurückzufallen
Ich finde dieses Verhalten sehr glaubwürdig. Immer, wenn Arielle von etwas berührt wird, wenn ihr etwas nah kommt,wird sie schroff und maximal verletzend. Oder sie zieht sich in die Depri zurück.
Aufgrund ihrer schweren Lebensverhältnisse kann sie keine emotionalen Bindungen eingehen, sie ist emotional komplett verkümmert. Sex und Alk als Ventile.
Diese Information war so unglaublich, dass sie sie weg gesteckt und für eine Weile vergessen hat. Oder sie wollte V. Die Chance geben, die Dinge selbst zu bereinigen.

Ich finde Arielle als Figur enorm glaubwürdig. Sie ist ziemlich kaputt. Und wahnsinnig gut gezeichnet.
Meine Rezi kommt kurzfristig. Ich habe den Fokus etwas anders gelesen, auch wenn alles stimmt, was du geschrieben hast.
Wäre ich etwas jünger, wären 5 Sterne gesetzt. Aber diese derbe Sprache war für mich eine Zumutung - auch wenn sie passt. Darf man dafür was abziehen?
 
  • Like
Reaktionen: GAIA

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.284
5.357
49
53
Aber diese derbe Sprache war für mich eine Zumutung - auch wenn sie passt. Darf man dafür was abziehen?
:think Wenn die Sprache passt, dann ist alles richtig und dann darf sie auch ne Zumutung sein. Aber letztendlich urteilen wir immer subjektiv Wenn du dich gequält hast, dann darfst du auch abziehen. Schwierige Entscheidung.
 
  • Stimme zu
Reaktionen: GAIA

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.187
49
Ich lese ehrlich gesagt selten was aus diesem Milieu, habe aber den Eindruck, dass es die Autorin unheimlich authentisch rübergebracht hat. Diese Trostlosigkeit, diese Familienverstrickungen. Und wenn die Protagonistin sauer wird, fällt sie voll ins Primitive zurück. Autsch! Schreit der Bildungsbürger da in mir auf:grinning
 
  • Like
  • Haha
Reaktionen: GAIA und Irisblatt

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.229
10.410
49
Thüringen
Wäre ich etwas jünger, wären 5 Sterne gesetzt. Aber diese derbe Sprache war für mich eine Zumutung - auch wenn sie passt. Darf man dafür was abziehen?
Ich denke mit den 5 Sternen hast du alles richtig gemacht. Wie gesagt, habe ich sehr mit mir gehadert und jetzt, mit ein wenig Abstand, könnte ich auch selbst gut 5 Sterne geben. Nur damals direkt nach der Lektüre stieß mir diese eine Stelle so stark auf. Und jetzt noch einmal kurz im Spoiler warum explizit:
Die Tatsache, dass sie sich wieder in Sex etc. wirft, ein Muster welches sie in ihrer Depression immer wieder zeigte, war für mich auch sehr schlüssig. Aber da sie doch sehr geschockt war von der Erkenntnis, dass die Großmutter in Kindesmissbrauch verwickelt ist, und die Protagonistin - trotz ihres offenen Sexlebens - diesen auch verurteilt, hat es mich gewundert, dass sie danach sich sofort wieder in genau dieses Bett legen konnte, in dem das Mädchen missbraucht/vergewaltigt worden ist. Erst pult sie geschockt die Haarspange aus dem Bett und dann schläft sie wieder mehrere Tage darin. Ich hätte hier eher gedacht, dass sie sich einen Lover sucht und bei diesem ein paar Tage unterkommt, oder so. Und ich hätte halt mit einem anonymen Tipp bei der Polizei gerechnet. Nicht umbedingt, um die Großmutter gleich mit auszuliefern, aber zumindest um den Vornamen des Entführers, der in dem Moment ja noch ein Mädchen festhielt, zu nennen. Damit hätte sie der Großmutter weiterhin die Möglichkeit gelassen, irgendwie selbst zu handeln bezüglich ihrer eigenen Beteiligung, das zweite Mädchen wär' aber bestenfalls schneller freigekommen.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.187
49
Aber Arielle befand sich in einer Depression, sie hatte mit sich selbst zu tun. Wenig Empathie hat sie ohnehin und Weiterdenken ist ihre Stärke nicht. Sie ist zwar kurz schockiert. Das ist es aber auch. Irgendwie passt das zu ihr, so emotional gestört, wie sie gezeichnet ist.

Die Autorin hat hier den Scheinwerfer auf ein kaputtes Milieu gelegt und zeigt, was es aus dir macht. Wer selbst mehrmals vergewaltigt wurde, sieht das vielleicht auch nicht mehr so eng? Gehört dazu. Stumpft emotional ab.
Schockiert haben mich auch solche Szenen, wie Lara ganz selbstverständlich Sangria süffelt. So fängt es an...
Grauenhaft.
 
  • Stimme zu
Reaktionen: GAIA