Rezension (4/5*) zu Insel der verlorenen Erinnerung: Roman von Yoko Ogawa

tinderness

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25. November 2021
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Wien und Wil
mostindien.org
Amnäsie, Sprachlosigkeit, Verschwinden

Mit Spannung und Ergriffenheit habe ich den Roman der japanischen Autorin Yoko Ogawa gelesen, das sich dem Phänomen der verlorenen Erinnerung widmet. Es erzählt die Geschichte einer Auslöschung: der Dingen, der Erinnerung und der Welt. In einem fiktiven Inselstaat herrscht die Erinnerungspolizei: sie wacht über die Einhaltung des Vergessens und Verschwindens: totalitär, unerbittlich und auf verhaltene Weise grausam. In regelmässigen Abständen verschwinden Dinge: Vögel, Rosen, Bücher und viele andere Gegenstände. Mit ihrem Verschwinden erlischt auch die Bedeutung derselben für die auf der Insel lebenden Menschen: das physische Verschwinden von Gegenständen bedingt ihr Vergessen durch die Menschen. Sind die Dinge einmal verschwunden, zerstört und vergessen, so ist der Prozess unausweichlich: nur mehr ein wages Gefühl an die einstige Bedeutung bleibt über, seine Bedeutung kann durch die der Erinnerung beraubten Menschen kaum mehr erschlossen werden. Wem es aber gelingt, die verschwundenen Dinge (und damit die Erinnerung an sie) doch festzuhalten, dem droht die Verschleppung durch die Erinnerungspolizei.

Die Geschichte einer Schriftstellerin wird erzählt, welche ihrem Lektor Unterschlupf gewährt, weil dieser befürchtet, von der Erinnerungspolizei abgeholt und – niemand weiss wohin – verschleppt zu werden. Er ist einer jener Menschen, die von dem um sich greifenden Prozess des Vergessens ausgenommen sind und deshalb für die Ziele der Erinnerungspolizei in höchstem Masse gefährlich sind. Mit Hilfe eines alten Mannes baut die Schriftstellerin in ihrer Wohnung einen gut getarnten Unterschlupf, in dem ihr Lektor Zuschlupf findet: eine Art Widerstandsnest gegen das Vergessen. Eingebettet in diese Handlung sind Texte des neuen Romanes der Protagonistin, der von der Geschichte einer Schülerin erzählt, die von ihrem Schreibmaschinenlehrer der Freiheit beraubt wird und, ohne sich sprachlich ausdrücken zu können, von diesem für seine perversen Obsesionen missbraucht wird. Ihrer Schreibmaschine beraubt, verstummt sie und vegetiert in der Dachkammer eines Turmes dahin. Wir lernen in diesem sehr intensiv und klug geschriebenen Buch, dass mit dem Verschwinden der Dinge und der Sprache menschliche Erinnerung und Ausdrucksfähigkeit versiegen, ja überhaupt zum Verschwinden der Menschlichkeit und des Menschen führen. Und doch: die Erinnerung stirbt, so wie die Hoffnung immer zuletzt.

In vielen Kritiken dieses Romans wird dieser als grossartige Dystopie gefeiert, als neue Parabel auf autoritäre Regime mit ihren Kontrollmechanismen und der Unterdrückung von öffentlicher Sprache und Erinnerungskultur. Das sicherlich zu Recht. Vergleiche mit George Orwell werden gezogen. Letzteres sicher zu Unrecht. Assoziationen an die Nationalsozialistische Diktatur tauchen natürlich auf, etwa an jenen Stellen, die auf eindrückliche Weise Bücherverbrennungen beschreiben. Ein Schlüsselerlebnis für die Schriftstellerin, da sie ab nun ihrer Lebensgrundlage beraubt ist. Mit einem Male hat das Schreiben und Verfassen von Geschichten keine Bedeutung mehr. Ihr Lektor versucht ihr, die Erinnerung wiederzugeben. Es reicht zum Vollenden der Geschichte. Ein müshsamer, fast unmöglicher Prozess.

Ich glaube nicht, dass man es sich so einfach machen kann, das Buch allein als eine Dystopie des Totalitarismus lesen zu wollen, ganz einfach deshalb, weil weit mehr erzählt wird als die Bedrohung durch eine Erinnerungspolizei, von welcher man zudem nicht erfährt, welchen Zielen ihre klandestine Tätigkeit dient. Die Phänomene der Amnäsie, der Sprachlosigkeit und der Auslöschung sind in das Erleben der Protagonistin des Romans verlagert, die Angst vor dem Unerklärlichen bestimmt ihren Alltag. Die Leser schreiben sich ein in die allgemeinen Prozesse der Amnäsie, und in das Verschwinden der Vergangenheit. Die Zukunft verschwindet mit ihr und eine apathische Gegenwart ergreift Alle.