Rezension (4/5*) zu Ins Unbekannte von Lukas Hartmann

alasca

Bekanntes Mitglied
13. Juni 2022
2.972
9.423
49
Buchinformationen und Rezensionen zu Ins Unbekannte von Lukas Hartmann
Kaufen >
Sachlich, aber dennoch erschütternd

„Ins Unbekannte“ beschreibt eine Zeit der Umbrüche – politisch kommt die Idee der sozialen Gerechtigkeit auf, die sich zum Ideal des Sozialismus steigert. In der Medizin entsteht die Disziplin der Psychologie, die auf neuartige Weise das Innenleben der Menschen erforschen und verletzte Seelen heilen will.

Hartmann stellt hierfür zwei Biographien kapitelweise nebeneinander, die sich nur einmal räumlich kurz annähern, ohne sich je zu berühren. Einmal die der russischen Jüdin Sabina Spielrein, die aufgrund der Diagnose Hysterie in die Züricher Burghölzl-Klinik eingeliefert und von C. G. Jung behandelt wird. Aus dem Arzt-Patientin-Verhältnis wird eine Liaison. Spielrein wird selbst Psychoanalytikerin und pflegt später mit Jung eine kollegiale Freundschaft, in der fachlicher Austausch Vorrang hat. Sie gilt als Pionierin der Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie des Kindes. (Wikipedia)

Die zweite Biografie betrifft Fritz Platten, bekannt als derjenige, der Lenin zurück nach Russland brachte und als dessen Lebensretter bei einem Attentat. Seine Biographie ist, im Gegensatz zu Spielreins, durch rein ideologische Motive bestimmt. Wo Spielrein danach strebte, dem Einzelnen zu helfen, interessiert Platten sich nur für die Masse, die es kollektiv vor dem Kapital zu retten gilt. Hierfür ist ihm kein Opfer zu groß – nur muss meist nicht er selbst das Opfer bringen. Er hat Partnerinnen und Kinder für sein Ideal verlassen und nun, im Gulag, viel Zeit, seine Prioritäten zu bereuen.

Vor allem seine verschwundene letzte Frau Berta füllt jahrelang seine Gedanken – als er erfährt, dass sie längst tot ist, bricht er zusammen. Spielrein arbeitet sich immer wieder an ihrer prägenden Beziehung zu Jung ab, die dieser feige abbrach, nicht ohne ihr die Rolle der schuldigen Verführerin zuzuschieben. Die sensible Beschreibung der inneren Kämpfe der Protagonisten verleihen der teils sehr knappen, sachlichen und informationslastigen Erzählweise Leben. Spielrein war für mich dabei die weitaus interessantere und spannendere Figur. Auf der Zeitebene gibt es, vor allem im Platten-Strang, ein paar Flüchtigkeitsfehler, die für Irritation sorgen, aber letztlich nicht ins Gewicht fallen - nur schade bei einem solchen Profi wie Hartmann.

Gemeinsam ist beiden Protagonisten, dass sie sich dazu entschließen, die sichere Schweiz zu verlassen und nach Russland zu gehen, als Stalin bereits an der Macht ist. Sabina fällt dort mit ihrer Familie der deutschen Judenverfolgung zum Opfer, Platten wird nach langer Haft in einem russischen Straflager exekutiert. Beide haben sich „Ins Unbekannte“ gewagt, beide bezahlten dafür mit dem Leben. Dies wird von Hartmann respektvoll zurückhaltend erzählt. Erschütternd ist es dennoch.

Mir waren weder Spielrein noch Platten vor der Lektüre bekannt – und hierin sehe ich die eigentliche Stärke des Romans – diese beiden Persönlichkeiten ins Bewusstsein zu holen, die historischen Fakten mit der Wucht des gelebten Dramas zu verbinden. Hartmann rollt diese beiden Leben auf und bringt uns ihre Tragik näher. Er erinnert uns auch daran, dass totalitäre Regime zu allen Zeiten dieselben Kennzeichen haben, an denen man sie leicht erkennen kann. Das kann vielleicht helfen in einer Zeit, in der Gewissheiten schwierig scheinen.

Fazit: Trotz kleiner Mängel ein beeindruckender Roman mit Nachhall.